Um eine Disziplin zu beherrschen, müssen wir von ihren Wurzeln ausgehen

Gedanken zur Homöopathie
Ein Interview mit André Saine

Schriftenreihe der Gesellschaft homöopathischer Ärzte in Schleswig-Holstein und den Hansestädten e.V. im Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte e.V. mit Sitz in Hamburg seit 1894.
Herausgegeben von Curt Kösters und Jochen Rohwer

Grundlagen und Praxis· Leer
1. deutschsprachige Ausgabe, Übersetzung: Agnes Riedel, Hamburg

Interview mit André Saine, N.D., D.H.A.N.P.
Korrigierte Version – Mai 1997

Titel der englischen Originalausgabe: „To master as discipline, We Have to start from it’s Roots upwards“. Interview with André Saine, N.D., D.H.A.N.P.
In: Homoeopathica. Journal of LMHI. Autumn 1994 (Part 1), Winter 1995 (Part 2). Corrected Version – May 1997).

André Saine absolvierte sein Studium am National College of Naturopathic Medicine in Portland/Oregon, USA, und hat ein Diplom der Homeopathic Academy of Naturopathic Physicians (D.H.A.N.P.).
Seit zehn Jahren unterrichtet er und hält Vorlesungen über Homöopathie; einer der Schwerpunkte seiner klinischen Arbeit ist die Behandlung von Patienten mit schweren chronischen Erkrankungen. Neben der Arbeit in seiner Privatpraxis (jetzt in Montreal, Kanada) ist er seit 1986 Dekan und leitender Dozent für das Postgraduierten-Programm der Canadian Academy of Homeopathy.

Das folgende Interview ist im Januar 1994 von den Liga-Mitgliedern Dr. Friedrich Dellmour und Dr. Gerhard Willinger aufgezeichnet worden, die Dr. Saines Besuch in Österreich zum Anlass genommen haben, einige grundlegende Fragen über Homöopathie mit ihm zu diskutieren.

Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber.

Teil 1

Was brachte Sie zu der Entscheidung, Homöopathie zu studieren?
André Saine: 1976, am Anfang meines Studiums, bemerkte ich, dass Dr. Joseph Bonyun, einer unserer Professoren, am Ende seiner Titel die Buchstaben Hom. trug. Ich fragte ihn, was sie bedeuteten, und er gab mir eine kurze Erklärung und sagte: „Wenn Sie wissen möchten, was das heißt, kommen Sie in meine Praxis – ich bin dort dienstags und donnerstags abends und an Samstagen.“ Ich ging hin, und einer der ersten Patienten, der an diesem Abend einen Termin bei Dr. Bonyun hatte, war ein etwa 45-jähriger Dermatologe, der seit seiner frühen Kindheit an einem Ekzem litt. Dieser Patient war sehr skeptisch und sagte wiederholt, er glaube nicht an die Homöopathie, sei aber bereit, sie auszuprobieren, weil zwei seiner Patienten mit ähnlichen Beschwerden erfolgreich von Dr. Bonyun behandelt worden seien. Da dieser Dermatologe alle möglichen Salben benutzt hatte, um seine Aussch1äge zu unterdrücken, gab Dr. Bonyun ihm Zincum metallicum 10M. Nach kurzer Zeit war der Dermatologe zunächst völlig von Ekzemen bedeckt und erlebte innerhalb von sechs Wochen eine wesentliche Besserung seiner Beschwerden.

Sobald ich die Homöopathie entdeckt hatte, sagte ich mir: „Das ist es, was ich studieren will!“ Dr. Bonyun war Homöopath in der dritten Generation – seine Mutter hatte ihr Examen am Hahnemann Medical College in Philadelphia gemacht, und sein Großvater ist Homöopath in England gewesen.

Wer waren die Lehrer, die Ihnen Homöopathie beigebracht haben?
André Saine: Dr. Bonyun war der erste, der mich ermutigte, Homöopathie zu lernen. Während meiner klinischen Ausbildung studierten wir Fälle zusammen. Dann studierte ich bei einer Reihe von Lehrern einschließlich Robin Murphy, Bill Gray, George Vithoulkas, Francisco Eizayaga und John Bastyr. Dr. Bastyr war ein Nachfolger von Lippe In der dritten Generation. Sein Lehrer war C.P. Bryant (1939 Präsident der International Hahnemannian Association), und C.P. Bryant wiederum war von Walter James unterrichtet worden, einem von Lippes besten Schülern. Meine wirklichen Lehrer, von denen ich am meisten gelernt habe, waren jedoch die Meister der Vergangenheit. Ich entdeckte sie, indem ich die alten Zeitschriften las. 1980 ging ich ans National College of Naturopathic Medicine in Portland, Oregon, um Homöopathie zu studieren. Dort verbrachte ich eine Menge Zeit in der Bibliothek, die mehr als 2000 Bände über Homöopathie enthielt. Sie hatten eine wunderbare Sammlung alter Zeitschriften wie The Homoeopathic Physician (herausgegeben von Edmund J. Lee und Walter James, zwei von Lippes vertrautesten Schülern), The American Homoeopathic Review (herausgegeben von Carroll Dunham und P.P. Wells), The Hahnemamian Monthly (herausgegeben von Adolph Lippe), The Medical Advance (herausgegeben von H.C. Allen), The Proceedings of the International Hahnemannian Association usw. Hier waren an einem Ort die besten klassischen Zeitschriften des neunzehnten Jahrhunderts versammelt. Wann immer ich ein bisschen Zeit übrig hatte, ging ich in die Bibliothek und las diese alten Journale. Das heißt, als ich so richtig auf den Geschmack gekommen war. Je mehr ich las, umso mehr erkannte ich, dass das, was mir im Unterricht beigebracht wurde und was in den modernen Lehrbüchern geschrieben stand, eine völlig andere Sichtweise verkörperte als die in den alten Journalen beschriebene. Es waren zwei völlig unterschiedliche Vorgehensweisen und Arten zu praktizieren, die eine deduktiv [=den Einzelfall vom Allgemeinen ableitend], jeder wissenschaftlichen Strenge beraubt und den Leser oft den eigenen Spekulationen überlassend –, die andere von Grund auf wissenschaftlich basiert, induktiv [=vom Einzelnen auf das Allgemeine schließend]. Je mehr ich diese alten Meister studierte, umso mehr erkannte ich, dass die moderne homöopathische Gemeinschaft fast komplett von ihren Wurzeln abgeschnitten war. Je mehr ich forschte, umso mehr erkannte ich, dass es nur sehr wenige wahre Meister der Homöopathie gegeben hat. Obwohl die meisten von ihnen schon vergessen sind, haben wir immer noch ihre Schriften, um daraus zu lernen. Wenn wir eine Disziplin beherrschen wollen, müssen wir von ihren Wurzeln ausgehen.

Mit der Geschichte der Homöopathie vertraut zu werden, war eine Grundvoraussetzung für mich, um ein tiefes Verständnis für sie zu entwickeln. Wenn wir unsere Geschichte kennen, können wir erfahren, woher wir kommen, wo wir stehen und wo wir uns hinbewegen müssen. Indem ich die Geschichte der Homöopathie studierte, erkannte ich, dass jede zweite Generation von Homöopathen über Meinungsverschiedenheiten zu diskutieren pflegte, die in der Vergangenheit längst beigelegt worden waren. Ist es nicht wahr, dass wir, wenn wir unsere Geschichte nicht kennen, uns selbst dazu verdammen, sie noch einmal zu durchleben? 1983 entschied ich mich, die homöopathische Literatur systematisch durchzuforsten, um die inzwischen längst vergessenen Juwelen wieder zu bergen. Ich durchsuchte die amerikanische Literatur – welche am umfangreichsten ist –, die britische, französische, und sogar einiges an spanischer und italienischer Literatur sowie Übersetzungen der besten deutschen Artikel. Ich hätte keinen für unsere Zeit besseren Lehrgang mitmachen können. Auf diese Weise konnte ich das Werk Hahnemanns durch die Arbeit und Erfahrung von Praktikern wiederentdecken, die es wirklich verstanden hatten. Ich habe in dieser alten Literatur meinen besten Lehrer gefunden, und derjenige von den alten Meistern, der mich am meisten gelehrt hat, war Adolph Lippe.

Warum speziell Lippe?
André Saine: Zunächst einmal, weil er sehr viele Zeitschriftenartikel verfasst hat, wahrscheinlich am meisten von allen; in beinahe fünfzig Jahren Praxis veröffentlichte er mehr als 350 Artikel. Das heißt, Lippe schrieb im Durchschnitt sechs Artikel pro Jahr, und manche waren 10 bis 20 Seiten lang. Und wenn allein schon der Umfang dieser Produktion außergewöhnlich war, dann erst recht die Qualität seiner Arbeit. Ich glaube nicht, dass es irgendeinen anderen in der Literatur der Homöopathie gegeben hat, dessen schriftliche Arbeiten an die von Lippe heranreichen, was die Demonstration der homöopathischen Prinzipien betrifft. Er war wahrscheinlich Hahnemanns treuester Nachfolger. Über eine Zeitperiode von fast fünfzig Jahren bestätigte er in seiner Arbeit, was Hahnemann fünfzig Jahre zuvor herausgefunden hatte: durch seine Schriften demonstrierte er die Wahrheit des Ähnlichkeitsgesetzes und bewies die Gültigkeit von Hahnemanns Lehren Tag für Tag in seiner Praxis. Niemand in der Geschichte der Homöopathie reicht an Lippe heran, was seine Behandlungserfolge betrifft. Einmal während eines Seminars analysierten wir die Fälle, die er im Verlauf von zwei Jahren, 1878 und 1879, verloren hatte. Wir fanden heraus, dass er während dieser Zeit nur sieben ältere Patienten verloren hatte, die sehr spät mit chronischen Krankheiten wie Krebs und Tuberkulose zu ihm gekommen waren; aber kein einziger Patient war in diesen zwei Jahren an einer akuten Krankheit gestorben und das war absolut bemerkenswert in einer Zeit, in der es Epidemien von Scharlach, Typhus und Diphtherie gab. Diese Krankheiten hatten normalerweise eine hohe Mortalitätsrate – ungefähr 40 Prozent bei Diphtherie, bei maligner Diphtherie manchmal sogar 60 – 65 Prozent. Lippe war ein phänomenaler Verschreiber, den niemand je übertroffen hat. In Philadelphia war er dafür bekannt, dass er die größte und erfolgreichste Praxis von allen hatte – und das war die Stadt, in der auch Hering lebte und praktizierte. Er war eine Klasse für sich und schon zu Lebzeiten dafür bekannt. Wenn wir uns im Vergleich Hahnemanns und Bönninghausens Krankenjournale ansehen, können wir besser verstehen, warum Lippe als „der beste Verschreiber, den unsere Schule je gesehen hat“ – betrachtet wurde. Lippe scheint sich in die praktische Anwendung der Homöopathie besser eingearbeitet zu haben als Hahnemann selbst.

Es gibt viele homöopathische Schulen und Methoden. Einmal haben Sie diese Entwicklung mit einem Mammutbaum verglichen. Könnten Sie das etwas genauer erklären?
André Saine: Der Mammutbaum ist ein Baum, der sehr alt werden kann, bis zu dreitausend Jahre. Er hat eine sehr breite Basis, und sein Stamm wird nach oben hin dünner. Nun, ich vergleiche diese Basis mit Hahnemanns Lehren – wir machen Fortschritte in unserer Wissenschaft, wir fügen neues Wissen zu dem hinzu, was schon da ist, aber die Masse an Wissen hat sich bereits angesammelt, die breite Basis ist da. Dieser Stamm ist so solide, wie das Leben nur sein kann. Er symbolisiert die Praxis der reinen Homöopathie. Der Stamm wächst lediglich, indem er außen neue Schichten anlagert – sein Kern ändert sich nie. Ebenso basiert die reine Homöopathie auf einem unveränderlichen Gesetz. Es gibt auch Zweige, die ebenfalls aus dem Stamm heraus wachsen – ohne einen Stamm kann es keine Ableger der Homöopathie geben.

Bei einem Mammutbaum leben die Zweige nie so lange wie der Stamm – die unteren Zweige fallen ab und sterben, und neue Zweige kommen oben heraus. Ich vergleiche diese Zweige mit den verschiedenen „Ablegern oder Parasiten“ der Homöopathie: der Isopathie nach Lux, den Niedrigpotenzen und spezifischen Arzneimitteln nach Griesselich, der pathologischen Verschreibung und physiologischen Materia medica nach Hughes, den Polypharmakologen, den Komplexologen, den Mittelwechslern, den Organopathologen, den Eklektikern, dem Schüßlerismus, Kents Swedenborgismus und seiner Materia medica zusammengesetzter Mittel.

Später hatten wir Bachs „Darmismus“ und „Blütenismus“, heute die Elektrodiagnostiker, die Materia-medica-Phantasten und -Futuristen, die große Ausschmückung miasmatischer Verrücktheiten, die Nur-Ultrahochpotenzler und sogar den supra-kentianischen Katholizismus. All diese Methoden sind nichts als Abweichungen von der streng induktiven Methode Hahnemanns. Aber wie die neuen Zweige an der Spitze des Mammutbaums ziehen sie viele an, und viele reagieren übermäßig begeistert auf diese neuen Herangehensweisen. Das erinnert uns an die berühmte Ermahnung von Trousseau: „Behandle so viele Patienten wie möglich mit den neuen Arzneimitteln (diesen Ablegern), solange sie noch die Macht haben zu heilen.“ Während der Baum weiter wächst, fallen diese Zweige ab und sterben, um bei Gelegenheit durch neue ersetzt zu werden. Was immer lebendig bleibt, ist der Stamm, das Fundament der Homöopathie, das auf der streng induktiven Methode Hahnemanns basiert. Dieses überdauert und wird für immer weiter wachsen. Zu viele haben die Ermahnung vergessen, die Hering in seinem letzten veröffentlichten Artikel aussprach: „Wenn unsere Schule jemals die streng induktive Methode Hahnemanns aufgibt, sind wir verloren und verdienen nur, als eine Karikatur in der Geschichte der Medizin erwähnt zu werden.“ Zeitweise haben wir das Gefühl, dass es beinahe einen Wettbewerb darum gibt, wer der Originellste – und damit unabsichtlich die beste Karikatur – wird. Es tut mir leid, aber es gibt andere Gebiete als die Medizin, um darin den Clown zu spielen.

Welche Homöopathen – in der Geschichte und in der Gegenwart – waren  bzw. sind wirkliche Nachfolger Hahnemanns?
André Saine: Wir wissen natürlich nur von denjenigen, die schriftliche Arbeiten hinterlassen haben. Ich habe die Geschichte und Literatur der Homöopathie sehr sorgfältig studiert, und besonders natürlich das amerikanische „Kapitel“ der homöopathischen Geschichte, und bin zu dem Schluss gekommen, dass es sehr, sehr wenige gegeben hat, die die Homöopathie wirklich beherrscht haben. Wenn man Hahnemann selbst betrachtet – er war ein Wissenschaftler, ein Experimentator, der einen phänomenalen Beitrag zur Medizin geleistet hat, aber als Behandler war er nicht in der Lage, das gesamte Potential der Homöopathie zu verwirklichen, wie man in seinen Krankenjournalen sehen kann. Das mag daran gelegen haben, dass er so viel experimentierte. Aber wenn wir uns Menschen ansehen, die Hahnemanns Lehre wirklich anwandten, besser als Hahnemann selbst, dann erreichten sie phänomenale Ergebnisse. Sie waren diejenigen, die die klinischen Aspekte der Homöopathie wirklich verstanden haben. Lippe ist hier natürlich wieder das beste Beispiel. Hering war wahrscheinlich derjenige, der nach Hahnemann persönlich das meiste Vergnügen an der Entwicklung der Homöopathie fand; er nahm an mindestens 106 Arzneimittelprüfungen teil, an nur zehn weniger als Hahnemann. Er war nicht der erste Homöopath in Amerika, aber zusammen mit William Wesselhoeft einer der Gründervater der amerikanischen Schule der Homöopathie. Als er 1880 starb, schrieb Lippe in seinem Nachruf auf Hering, die amerikanische Schule der Homöopathie habe ihren Vater verloren.

Neben Adolph Lippe sind aus dieser Schule Fachleute hervorgegangen wie P.P. Wells, Joslin, Carroll Dunham, Edward Bayard, H.N. Guernsey, Constantin Lippe (Adolphs Sohn), E.B. Nash, E.W. Berridge, H.C. Allen, Earnest and Harvey Farrington (Vater und Sohn), Yingling, Alfred und Dayton Pulford (Vater und Sohn). Sehr wenige in der Geschichte der Homöopathie haben die Homöopathie wirklich beherrscht, und nur sehr wenige haben die Lehre Hahnemanns verstanden – daher ist das wahre Potential der Homöopathie selten voll verwirklicht worden. Die Personen, deren Namen ich gerade erwähnt habe, waren Teil des goldenen Zeitalters der amerikanischen Homöopathie. In Europa hatten wir Jahr und Bönninghausen, die die Homöopathie sehr gut verstanden, und auch Thomas Skinner (ein Schüler von Berridge). Später gab es eine Wiederbelebung guter Homöopathie durch Pierre Schmidt, der nach Amerika kam, um von zwei Schülern Kents ausgebildet zu werden, von Frederica Gladwin und Alonzo Eugen Austin. Er ging dann zurück nach Europa und inspirierte eine ganze Generation von Homöopathen überall auf der Welt. Viele der führenden Personen in der Homöopathie jüngerer Zeit sind direkte Schüler von Pierre Schmidt gewesen, so wie Jacques Baur, Jost Künzli, Jacques Imberechts, Robert Bourgarit, Horst Barthel, Will Klunker. Thomas Paschero, D. Harish Chand usw. Sein Einfluss hat sich über Europa hinaus nach Nord – und Südamerika und nach Indien ausgebreitet. In Nordamerika waren Elizabeth Wright-Hubbard, F.K. Bellokossy und Roger Schmidt (Pierres Bruder) ebenfalls Schüler von Pierre Schmidt. Wir müssen uns auch daran erinnern, dass Pierre Schmidt der Gründervater der Liga im Jahre 1926 war. Dennoch wiederhole ich, dass nur sehr wenige die Homöopathie wirklich beherrscht haben. Lippe war einer der wenigen, die vom klinischen Standpunkt her perfekt waren. Er machte natürlich auch ein paar Arzneimittelprüfungen – aber hauptsächlich praktizierte er Homöopathie nach Hahnemanns Lehre bis zu dem Punkt, wo man sagen kann, dass er die klinische Homöopathie wirklich beherrscht hat.

Hering war ein Meister, der Theorie und Praxis der Homöopathie so gut wie möglich kombinierte, und dasselbe tat Bönninghausen, wenn auch in geringerem Ausmaß. Die amerikanische Schule der Homöopathie verließ im zwanzigsten Jahrhundert die International Hahnemannian Association, die durch die Arbeit von Adolph Lippe geschaffen worden war; sie war Lippes „Ableger“. Es war die berühmte Rede von Carroll Dunham im Jahre 1870, die letztendlich Ärzten jeder Schule, egal ob sie Homöopathie praktizierten oder nicht, die Tür zur Mitgliedschaft im American lnstitute ot Homoeopathy geöffnet hatte. Lippe rief daraufhin die Hahnemannianer auf, eine neue Gesellschaft zu gründen, die die reine Homöopathie bewahren sollte. Zehn Jahre später, kurz vor Herings Tod im Jahre 1880 wurde schließlich die International Hahnemannian Association gegründet.

Von 1881 bis 1959 trafen sich diese Hahnemannianer jedes Jahr für 3 – 4 Tage, um Artikel zu diskutieren, die später als Proceedings of the International Hahnemannian Association veröffentlicht wurden. Diese Gesellschaft spielte eine wesentliche Rolle dabei, die Hahnemannianer zusammenzurufen und der Praxis und Verbreitung reiner Homöopathie neuen Aufschwung zu geben. Wäre Lippe nicht gewesen, der fünfzig Jahre lang für die Praxis und Verteidigung der reinen Homöopathie gearbeitet hat, wäre die amerikanische Schule wahrscheinlich ausgestorben, und wenn das passiert wäre, hätte es auch keinen Pierre Schmidt gegeben. Meiner Meinung nach wäre in diesem Fall die reine Homöopathie völlig verschwunden. Genauso wäre die Homöopathie wahrscheinlich niemals entdeckt worden, wenn Hahnemann nicht existiert hätte. Was Hahnemann tat und entdeckte, war ganz einzigartig und außergewöhnlich. Und ohne den Beitrag von Lippe wären seine Lehren verloren gegangen, nicht nur in Amerika, sondern in der ganzen Welt. Das ist meine Meinung, und es gibt eine Menge Indizien in der homöopathischen Literatur, die sie bestätigen.

Es ist interessant, die Geschichte der Homöopathie in Europa von Hahnemann ausgehend zu verfolgen. Es gab insgesamt einen Abwartstrend, auch wenn es in fast jedem europäischen Land einige Nischen gab, wo man Homöopathie von guter Qualität finden konnte. In Amerika gab es diese ebenfalls, dank Hering und Wesselhoeft, die eine Schule von sehr hoher Qualität gründeten. Als die Nachfrage nach homöopathischen Ärzten anstieg, entstanden schließlich mehr Schulen. Wir können als allgemeine Regel sagen, dass die Ausbildung umso schlechter wurde, je größer die Anzahl der Schulen war, bis zu dem Punkt, wo nur wenige ihrer Absolventen in der Lage waren, erfolgreich Homöopathie zu praktizieren. Wie man sieht, war also das Überleben der reinen Homöopathie sehr unsicher: Weniger als zwei Prozent der Absolventen dieser Schulen waren fähig, reine Homöopathie zu praktizieren. Und das kam daher, dass sie sie aufgrund der schlechten Qualität ihrer Ausbildung nicht richtig verstanden.

Was waren Ihrer Meinung nach die Gründe für den Niedergang der Homöopathie in Amerika und überall in der restlichen Welt während der letzten 100 Jahre?
André Saine: Ich habe die Entwicklung der Homöopathie sehr sorgfältig verfolgt, und ich kann Ihnen sagen, wann der „Abwärtstrend“ – speziell in Amerika angefangen hat. Wir können seinen Beginn auf das Jahr 1845 datieren, zeitgleich mit Julius Hempels Übersetzung von Hahnemanns Werken. Seine Fehlübersetzungen und Interpretationen von Hahnemanns Texten ebenso wie seine allgemeinen Lehren führten zu Verwirrung, und er war verantwortlich für die Einführung einer mehr reduktionistischen und allopathischen Denkweise in die Homöopathie. Damit fing es an, aber dieser Trend war nicht sehr stark bis zum Jahre 1870, als Carroll Dunham seine berühmte Rede vor dem American Institute of Homoeopathy hielt. Sie hatte den Titel „Meinungs- und Handlungsfreiheit in der Medizin: eine Lebensnotwendigkeit und große Verantwortung“. Mit dieser Rede wurde letztendlich den Pseudo-Homöopathen die Erlaubnis gegeben, ihren Eklektizismus zu praktizieren. Vier Jahre später, im Jahre 1874, wurde die Bezeichnung „Homöopathie“ als Bedingung für eine Mitgliedschaft im American lnstitute of Homoeopathy gestrichen. Dunhams ursprüngliches Motiv war vielleicht nobel, stellte sich aber später als naiv heraus. Er sagte: „Lasst alle praktizieren, wie sie es für das Beste halten, und auf die Dauer werden sie schon zu der Überzeugung kommen, dass die reine Homöopathie der einzige Weg ist.“ Lippe stellte als Antwort auf Dunhams Rede die Frage, ob die Homöopathen jetzt von Prinzipien oder Meinungen regiert werden sollten wie die Allopathen. Er erinnerte daran, dass „Similia similibus curantur“ ein Gesetz sei und wir daher nicht die Freiheit hätten, in Widerspruch zu diesem Gesetz zu behandeln, wenn wir uns Homöopathen nennen.

Was letztendlich passierte war, dass die Pseudo-Homöopathen mehr Freiheit bekamen, das, was sie praktizierten, lehrten und schrieben, Homöopathie zu nennen. Wie Lippe vorausgesagt hatte, schwächte dies die Gesellschaften und Schulen. Das Überleben der reinen Homöopathie war in Gefahr. Der Niedergang schritt weiter fort. Nehmen wir zum Beispiel das Jahr 1885, als T.F. Allen, damals Präsident des American Institute of Homoeopathy und Dekan eines homöopathischen Colleges, sagte, es gebe keinen Beweis für die Wirksamkeit der Infinitesimalpotenzen, dies sei lediglich ein Dogma. Nun war die Mehrheit der Mitglieder des American Institute of Homoeopathy, die sowieso Pseudo-Homöopathen waren, nur noch einen Schritt davon entfernt, sich mit den „Regulären“, den Allopathen, zu vereinen. In den Gesellschaften und Hochschulen wurden noch nicht einmal die Grundprinzipien der Homöopathie gelehrt. Mit der Qualität der Ausbildung in den Schulen Nordamerikas ging es drastisch abwärts. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit bis zum Niedergang und Verschwinden ihrer Institutionen. Die Homöopathie war in Nordamerika während ihrer frühen Jahre dank der erstaunlichen Erfolge, die die „alte Garde“ während der Epidemien erzielte, sehr populär geworden – Diphtherie-, Scharlach-, Malaria-, Cholera- und Gelbfieberepidemien – besonders Gelbfieber; die Sterblichkeit dafür lag bei 55 Prozent mit allopathischer Behandlung, aber bei weniger als 5 Prozent mit homöopathischer Behandlung, und das gleiche galt für die Cholera. Es war diese „alte Garde“ die der Homöopathie ihre goldenen Sporen verdiente. So wurde die Homöopathie sehr populär, sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Politikern. Homöopathische Ärzte waren oft angesehener als allopathische. In den 1880er Jahren gab es ungefähr fünfzehn verschiedene Hochschulen der Homöopathie, und es wurden noch mehr gegründet, als die Nachfrage nach homöopathisch praktizierenden Ärzten stieg. Aber nur sehr wenige Ärzte waren in reiner Homöopathie ausgebildet und in der Lage, sie sauber anzuwenden. So praktizierten viele von ihnen „gemischte“ Homöopathie zusammen mit Allopathie. Wenn wir also hören, dass es zur Jahrhundertwende 15.000 Homöopathen in den Vereinigten Staaten gab, so ist das einfach nicht wahr; es gab wahrscheinlich weniger als zweihundert, die sich bemühten, reine Homöopathie zu praktizieren. Der Rest waren „Gemischte“ oder Ärzte, die zwar einen Titel von Homöopathie-Schulen hatten, aber nicht versuchten, rein homöopathisch zu behandeln. Solch ein Titel bedeutete nicht, dass man wirklich in Homöopathie ausgebildet worden war. Nur um Ihnen ein Beispiel zu geben: Nash, den wir alle für seine Leitsymptome bewundern, hat gesagt, als er während der 1860er Jahre das Western College of Homoeopathic Medicine in Cleveland besuchte, habe er nicht nur niemals das Organon gelesen, sondern noch nicht einmal von dessen Existenz gehört. Ich werde Ihnen ein anderes Beispiel geben: 1880 gab es 6.000 homöopathisch praktizierende Ärzte in Amerika, von denen 4.800 ein Studium an Hochschulen für homöopathische Medizin abgeschlossen hatten. Wissen Sie, wie viele Kopien des Organons zu dieser Zeit verkauft worden waren, seitdem 1836 die erste amerikanische Ausgabe in den Vereinigten Staaten veröffentlicht worden war? Ungefähr 600 Exemplare insgesamt – und es hat 4.800 Hochschulabsolventen der Homöopathie in Amerika gegeben! Und außerdem war eine ziemlich große Anzahl dieser Exemplare von Laien gekauft worden, weil Ärzte wie Lippe ihren Patienten empfohlen haben, das Organon zu lesen. Man könnte also sagen, dass weniger als 10 Prozent der Hochschulabsolventen für homöopathische Medizin eine Kopie des Organons besessen haben! Viele von ihnen hatten noch nicht einmal davon gehört. Das eigentliche Problem lag natürlich in der Ausbildung.

Sehen Sie, die Homöopathie ist aufgrund mangelnder Strenge in der Ausbildung eine extrem schwierig zu lernende und zu praktizierende Wissenschaft geworden. Während eines Treffens, bei dem es um homöopathische Ausbildung ging, saß ich einmal an einem Tisch mit etwa zwölf anderen Ärzten zusammen. Die meisten von ihnen hatten sich in verschiedenen Fachgebieten spezialisiert. Soweit ich mich erinnere, waren da zwei Psychiater, ein Neurologe, ein Kardiologe, zwei Internisten und ein Radiologe –sie alle hatten lange Jahre des Studiums in sehr schwierigen und anspruchsvollen Fachgebieten hinter sich, aber alle sagten, ihre Versuche, Homöopathie zu lernen, seien definitiv am schwierigsten gewesen. Keiner von ihnen hatte eine Ausbildung erhalten, die ihm Homöopathie so beigebracht hätte, wie er sein Spezialgebiet gelernt hatte, von A bis Z. Für ihre homöopathische Ausbildung hatten sie alle ihr Wissen hier und da Stück für Stück zusammenklauben müssen. Und das ist immer das Problem gewesen – der Mangel an qualifizierter Ausbildung in der Homöopathie. Und warum? Weil wir niemanden hatten, der das Fach genügend beherrschte, um es gut lehren zu können. Es gab keinen Mangel an Institutionen in Amerika, aber wie konnte man erwarten, eine angemessene Ausbildung zu erhalten, wenn keiner der Lehrer selbst seine Disziplin beherrschte?

Wir müssen irgendwo anfangen, sonst haben wir es mit einem Teufelskreis zu tun, mit einer Abwärtsspirale. Das ist schon immer das Problem in der Geschichte der Homöopathie gewesen. Nur wenige hatten das Fach genügend studiert, um es so zu lehren, dass ihre Schüler fähig gewesen wären, die Prinzipien der Homöopathie erfolgreich anzuwenden. Zur gleichen Zeit übernahmen Hochstapler wie Hempel den Lehrstuhl, so dass die Blinden von den Blinden geführt wurden. Heute ist das nicht viel anders. Die Geschichte wiederholt sich nur.

Was sollte ein systematisches Studium der Homöopathie Ihrer Meinung nach enthalten?
André Saine: Idealerweise sollte der Student vor seinem Eintritt in die medizinische Hochschule eine breite Allgemeinbildung in den freien Künsten und Wissenschaften erhalten, und insbesondere eine sehr solide Basis in Philosophie. Hahnemann hat zu diesem Thema in einem Artikel Stellung genommen, der Der ärztliche Beobachter genannt wird, veröffentlicht in der zweiten Auflage seiner Reinen Arzneimittellehre [1825. Ausgabe 1995. Bd, 4: 2l-26]. In diesem Artikel erwähnt er, dass gutes Urteilsvermögen und die Fähigkeit, genau zu beobachten, keine angeborenen Gaben sind, sondern durch entsprechende Ausbildung und Übung erworben werden müssen. Er sagt, dass das Studium der klassischen lateinischen und griechischen Autoren wesentlich sei, um diese Fähigkeiten zu entwickeln.

Ebenso lehrte Hering seine Schüler an der Allentown Academy, dass man als angehender Arzt genauso viel von Sokrates über die Untersuchung des Patienten lernen könne wie von Hippokrates. Hippokrates hat gesagt, der schwierigste Aspekt medizinischer Praxis sei die Beurteilung. Das ist heute nicht anders. Das Studium der freien Künste und Wissenschaften und fundierte Kenntnisse in Philosophie sind eine grundlegende Vorbereitung für den zukünftigen Arzt, indem sie eine offene Geisteshaltung und die Fähigkeit zu kritischem und gesundem Argumentieren fördern. Weiterhin vermitteln sie ihm einen Sinn für Geschichte und die Fähigkeit, seine Wahrnehmungen akkurat zu beschreiben, so dass er mit Sorgfalt und Intelligenz vorgehen kann. Von der medizinischen Seite her sollte dem Studenten dann eine Philosophie präsentiert werden, die ihn ermutigt, ein allgemeines und kritisches Verständnis von Studium und Praxis der Medizin zu entwickeln.

Das Medizinstudium sollte drei Hauptziele haben: erstens, die Ärzte zu ausgezeichneten Diagnostikern auszubilden, damit sie nicht nur in der Lage sind, den pathologischen Prozess zu erkennen, sondern das Phänomen Krankheit global und von seinem Ursprung her zu verstehen, und nicht nur alle Symptome, sondern auch alle begleitenden Umstände, Faktoren, Einflüsse und Ursachen ermitteln zu können. Das ist eine Voraussetzung für das Individualisieren. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Medizinstudent die grundlegenden biologischen Wissenschaften studieren – Anatomie, Physiologie, Histologie usw. – mit besonderer Betonung von Mikrobiologie, Genetik, Hygiene und Psychologie, immer aus einer ganzheitlichen Perspektive betrachtet, so dass er ein globales Verständnis der menschlichen Natur und der dynamischen Beziehung des Menschen mit seiner Umgebung bekommt, gefolgt von einem Studium der Pathologie, der Anzeichen und Symptome, der Differentialdiagnose, genauer und sorgfaltiger körperlicher Untersuchung und Pflege. Dann kann die Wissenschaft der Diagnostik sich voll entfalten.

Als guter Diagnostiker mit der Fähigkeit, die grundlegenden Ursachen von Krankheit zu erkennen, wäre der Arzt dann in der Lage, das zweite Ziel zu erreichen, und zwar die Krankheit an ihrem Ursprung zu eliminieren und den Patienten zu lehren, ein Leben zu führen, das einer guten Gesundheit förderlich ist. Das dritte Ziel wäre sicherzustellen, dass der Arzt die notwendige Ausbildung zur Beherrschung der Therapie erhält, und hier vor allem der therapeutischen Wissenschaft der Homöopathie. Ab dem ersten Jahr ihrer medizinischen Ausbildung sollten sich die Studenten mit der Philosophie der Homöopathie beschäftigen, das Repertorisieren lernen, die Materia medica der Akutmittel, „akute Verschreibungen“ [Verschreibung bei akuten Erkrankungen] und Erste Hilfe. Außerdem sollten sie beginnen, erfahrene und kompetente Kliniker bei der Arbeit zu beobachten.

Im zweiten Jahr könnten sie das vollenden, was im ersten Jahr noch nicht abgedeckt wurde, und mit dem Studium der „chronischen Verschreibung“ [Verschreibung bei chronischen Erkrankungen] und ihrer Materia medica beginnen. In der Klinik sollten sie unter Supervision an der Fallaufnahme und Untersuchung von Patienten teilnehmen.

Im dritten Jahr sollten sie ihr Studium der „chronischen Verschreibung“ in der Klinik fortsetzen und unter Supervision mit dem Fall-Management beginnen und im vierten Jahr ihre Ausbildung in der Homöopathie ergänzen, indem sie sich mit deren Anwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Fachgebieten wie Pädiatrie, Gynäkologie, Geburtshilfe, Neurologie, Psychiatrie, Kardiologie etc. beschäftigen. Bis dahin hätten die angehenden Mediziner etwa 2.400 Stunden didaktischen und 2.400 Stunden klinischen Unterricht hinter sich und könnten dann wahlweise ein oder mehrere Jahre als Assistenzarzt arbeiten und unter spezieller Anleitung erfahrenerer und kompetenter Ärzte unseres Fachgebiets ihr Studium vertiefen, ihre klinischen Fähigkeiten vervollkommnen und Forschung betreiben.

Nach Abschluss ihres Studiums sollten sie dann während der folgenden 4-5 Jahre noch weitere 50-100 Stunden Unterricht erhalten, da es Themen in der Homöopathie gibt, die erst nach einigen Jahren Praxis angegangen werden können. Diese jungen Ärzte sollten auch die Möglichkeit haben, ihre schwierigeren Fälle ihren Lehrern vorzustellen, vielleicht in einer College-Klinik mit festen Stunden für diesen Zweck, wo sie die erfahreneren Homöopathen bei der Arbeit an diesen Fällen beobachten könnten, so dass sie ebenfalls zu Experten werden. Das wäre der letzte Schritt der Ausbildung, der die Expertise von den Meistern an die fortgeschritteneren Schüler übermittelt.

Parallel dazu könnten im Bereich der Therapie noch andere Methoden erlernt werden, die komplementär zur Homöopathie sind, wie Psychotherapie, Hydrotherapie, physikalische Medizin etc. Dann hätten wir einen ausgewogenen Arzt, der darauf vorbereitet wäre, mit den schwierigsten akuten oder chronischen Fällen fertig zu werden, einen Arzt, der eine wirklich klassische medizinische Ausbildung hätte. Nach solch einer Ausbildung und nach etwa fünf bis zehn Jahren Praxis hätte er jede Gelegenheit bekommen, seine Disziplin zu beherrschen. Unglücklicherweise ist meines Wissens diese Art von Ausbildung nie angeboten worden, und das ist der Hauptgrund, warum so wenige die Homöopathie jemals wirklich verstanden haben. Am nächsten gekommen sind wir dem, als Lippe das Homoeopathic Medical College of Pennsylvania Mitte der 1860er Jahre übernahm. Er stellte sicher, dass die gesamte Fakultät dasselbe Verständnis der Homöopathie teilte, und sorgte für eine einheitliche Ausbildung. Neben Lippe lehrten auch Hering und Guernsey an dieser Fakultät. Wenn wir uns die Liste der Absolventen aus diesen Jahren ansehen, finden wir eine unvergleichliche Reihe von Namen wie Constantin Lippe, E.A. Farrington, TL. Bradford, E.W. Berridge und Walter James, die alle einen großen Beitrag zu ihrem Beruf geleistet haben. Eines Tages – ich hoffe sehr bald – werden wir in der Lage sein, unseren Studenten ein adäquates Ausbildungssystem anzubieten.

Was sind die Voraussetzungen für einen wirklich erstklassigen homöopathischen Arzt; was für eine Person sollte er (oder sie) sein?
André Saine: Die erste Voraussetzung ist eine ausgeglichene Persönlichkeit. Wenn diese fehlt, würde die Art und Weise, wie so ein Mensch an seine Studien herangeht, die Art, wie er Mittel verschreibt und wie er seine Patienten behandelt, seine Unausgeglichenheit reflektieren. Ausgeglichenheit bedeutet Gesundheit, besonders emotionale Gesundheit. Ansonsten könnte die Behandlung zu einer sehr schwierigen Erfahrung sowohl für den Arzt als auch für den Patienten werden. Auch eine gute Selbsterkenntnis ist wesentlich – je mehr ein Arzt davon hat, umso mehr wird er fähig sein, die Homöopathie zu beherrschen, umso weniger Fehler wird er machen und umso weniger wird sein Ego seiner Herangehensweise an die Homöopathie im Wege stehen. Medizin ist eine Kunst und Wissenschaft, die entwickelt wurde, um Menschen zu helfen. Sie ist ein Dienst eines menschlichen Wesens an einem anderen; viele scheinen die wahre Absicht der Medizin, welche nicht darin besteht, die Ärzte oder Arzneimittelfirmen zu bereichern, aus den Augen verloren zu haben. Sie ist im Wesentlichen ein Dienst an der Menschheit.

Der Arzt als Wissenschaftler muss mit großer Bescheidenheit an die Medizin herangehen – er muss eine solide Ausbildung und Selbsterkenntnis haben, und er muss immer begierig sein zu forschen und über die Natur zu lernen. Das Wort „physician“ [Arzt] ist von dem griechischen Wort „physis“ abgeleitet,  was „Natur“ bedeutet, und der „physician“ ist somit derjenige, der die Natur zu verstehen sucht, ihre Prinzipien und Gesetze und wie man sie in Gesundheit und Krankheit anwendet.

Zwei Grundvoraussetzungen für denjenigen, der lernen und entdecken möchte, sind Offenheit beim Beobachten und zugleich die Fähigkeit, dem Beobachter und dem Beobachteten kritisch gegenüberzustehen. Wie Hahnemann sagt, müssen wir unser Urteil immer „unter steter Aufsicht eines Misstrauens in unsere Fassungskraft“ fällen [Reine Arzneimittellehre. Bd. 4: 21. Materia Medica Pura. Vol. II: 40]. So möchte ich als Antwort auf Ihre Frage sagen, dass ein guter homöopathischer Arzt ein Mensch ist, der große Selbsterkenntnis und eine stabile Gesundheit besitzt und mit Bescheidenheit und Objektivität an die medizinische Wissenschaft herangeht. Das sind die Grundvoraussetzungen, um schnelle Fortschritte beim Erlernen der Homöopathie zu machen. Wenn wir Ärzte zulassen, dass unser Ego sich zu stark einmischt, wenn wir zu viele Vorurteile haben, sind wir in unserer Fähigkeit, die Natur so zu sehen, wie sie ist und in der Anwendung ihrer Prinzipien voreingenommen. Und das beeinträchtigt unsere Fortschritte in der Wissenschaft der Homöopathie.

Was ist die richtige Einstellung eines homöopathischen Arztes gegenüber einem Patienten: wie sollte seine Geisteshaltung sein?
André Saine:
Als Ärzte müssen wir Mitgefühl haben. Wenn wir kein Mitgefühl haben, werden wir nie wirklich gute Ärzte sein. Wenn wir unsere Kunst hauptsachlich ausüben, um Geld zu verdienen, sollten wir lieber in die Wirtschaft gehen – das ist viel einfacher. Die erste Grundlage ist also Mitgefühl – wir behandeln den anderen so, wie wir gern behandelt werden würden. Der Patient ist „König“ – oder „Königin“ – in unserer Praxis. Wir sind für unsere Patienten da und nicht umgekehrt. Das ist die Grundeinstellung. Unser Ego sollte nicht zwischen uns und unseren Patienten stehen; wie Hahnemann sagte, muss man „sich gleichsam aus sich selbst setzen“. Unser Herz und unsere Intelligenz sollten dem Patienten uneingeschränkt zur Verfügung stehen; eine gute Umgehensweise mit den Patienten ist eine Kunst, die ziemlich wesentlich für eine erfolgreiche Ausübung der Medizin ist. Auch sollten wir beständig gewillt sein, von unseren Patienten zu lernen. Wir sollten uns immer daran erinnern, dass jeder Patient, den wir sehen, zu unserer Ausbildung beiträgt. Jeder Patient ist ein Individuum, das ein einzigartiges Naturphänomen darstellt und uns etwas lehren kann.

Die Praxis reiner Homöopathie ist eine der größten Lehrmeisterinnen, die es gibt, denn wenn wir beständig versuchen, ein Naturgesetz anzuwenden, können Fehler, Mogeleien, Selbsttäuschung und Faulheit nur zu Fehlschlägen führen, weil der richtige Weg ein hohes Maß an Präzision erfordert. Wenn wir zulassen, dass sich Vorurteile zwischen uns und unsere Beobachtung drängen, wird unsere Wahrnehmung von Naturphänomen verzerrt sein, und wir werden nicht länger in der Lage sein, die Natur so zu sehen, wie sie ist. Das ist die Hauptursache für unsere Fehlschläge in der Praxis der Homöopathie. Jedes Mal also, wenn unsere Wahrnehmung der Realität verzerrt ist oder wir uns in der Beurteilung irren, wird ein Fehlschlag daraus resultieren, und unglücklicherweise kann das in den schlimmsten Fällen ein „Fataler Fehler“ sein, ein Ausdruck, den Lippe oft gebrauchte, um Abweichungen von der reinen Homöopathie zu beschreiben. In der Tat können Menschen sterben, weil wir nicht in der Lage sind, das Ähnlichkeitsgesetz korrekt anzuwenden und an ihm festzuhalten. Wenn wir also in der Homöopathie unfähig zur Objektivität sind, wenn wir eine Tendenz zu Vorurteilen haben, uns Meinungen, Phantasien, voreiligen Schlüssen, Erklärungen und Extrapolationen hingeben, halten uns unsere Gedanken von einer wirklich exakten Wahrnehmung ab. Daher ist es nicht erstaunlich, wenn wir nicht fähig sind, das volle Potential der Homöopathie zu verwirklichen und die versprochenen Resultate zu erzielen. Aus irgendeinem Grund haben wir alle diese Tendenz, uns das, was wir nicht wissen, vorzustellen, anstatt nach echtem Wissen zu suchen. Doch wir können die Natur nicht betrügen, und darum brauchen wir eine fundierte Ausbildung, darum müssen wir die Studenten den richtigen Weg lehren, nämlich wie man ausgezeichnete Ergebnisse erzielt, indem man das Gesetz befolgt, so wie es ist. Pierre Schmidt pflegte zu sagen, dass die Homöopathie viel Befriedigung in unser Leben bringt. Erstens, weil sie eine Herausforderung für den Geist ist. Zweitens ist sie eine Freude für das Herz, weil wir Menschen helfen, die leiden. Und drittens ist sie eine gute Art, für uns und unsere Familie den Lebensunterhalt zu verdienen.

Ich möchte noch ein Viertes hinzufügen, nämlich dass die Homöopathie auch eine große Lehrmeisterin ist, vielleicht die größte, die es gibt, weil sie uns lehrt, ein Naturgesetz anzuwenden. Wir werden ständig von der Natur korrigiert. Die Symptome des Patienten sind die Sprache der Natur; sie sagen uns Ärzten, was wir wissen müssen. Wenn unsere Wahrnehmung fehlerhaft ist, werden das auch unsere Taten sein, und sie werden einer schnellen Heilung des Patienten im Wege stehen. So müssen wir uns ständig selbst korrigieren und unsere Navigation beim ersten Anzeichen eines Irrtums neu ausrichten, so dass wir weiter in die richtige Richtung segeln. Wenn wir beim Praktizieren von Homöopathie richtig lernbegierig sind, werden wir weiser, indem wir ständig versuchen, in Übereinstimmung mit der Natur zu handeln. Weisheit ist im Wesentlichen diese konstante Suche nach dem richtigen oder rechten Weg.

Was ist die beste Art, die Materia media zu studieren?
André Saine: Erstens sollten wir nur die zuverlässigen Quellen studieren. Hahnemann hat uns da den Weg gewiesen, indem er sein erstes großes Werk der Materia medica Reine Arzneimittellehre nannte. Rein deshalb, weil die Materia medica nur auf wahren Beobachtungen basieren darf, frei von Meinungen, Mutmaßungen oder Vorstellungen. Nun, die Materia medica muss vor allem anderen auf Arzneimittelprüfungen einschließlich Vergiftungsfallen basieren; dazu werden die geheilten Symptome hinzugefügt, die die Verifizierung der Prüfungen sind. Damit hat man die Grundlage von Hahnemanns Reiner Arzneimittellehre. Als die Materia medica schließlich recht umfangreich wurde, wurde es notwendig, sie auf eine systematische Weise anzugehen, ansonsten wäre sie absolut überwältigend. Verschiedene Lehrer der Materia medica haben versucht, an dieses Thema heranzugehen, oft auf völlig gegensätzliche Weise. Die beste Methode ist meines Wissens die diagnostische Methode nach Hering, wie er sie seine Schüler an der Allentown Academy in den 1830er Jahren gelehrt hat, Im Wesentlichen können wir an die Materia medica auf die gleiche Art und Weise herangehen wie an jede andere Naturwissenschaft wie z.B. Geologie, Botanik, Zoologie oder Entomologie, bei denen alles durch Vergleichen klassifiziert wird. Was glauben Sie, wie lange ein erfahrener Entomologe brauchen würde, um ein neu entdecktes Insekt zu klassifizieren? Nur Sekunden – indem er die Charakteristika dieser neuen Art vergleicht, differenziert und klassifiziert.

Beim Studieren der Materia medica mit der diagnostischen Methode würden wir zunächst mit einem der am häufigsten verschriebenen Mittel anfangen und soviel wir können aus verlässlichen Quellen darüber lesen, angefangen bei den Arzneimittelprüfungen, die wir sehr sorgfältig studieren sollten, und die wir dann mit klinischen Erfahrungen von zuverlässigen Verschreibern und zuletzt mit geheilten Fällen ergänzen. Dann nehmen wir ein anderes häufig verschriebenes Mittel, das dem, welches wir zuvor studiert haben, möglichst ähnlich ist, und vergleichen und differenzieren die beiden. Wir machen das gleiche mit einem dritten Mittel und so weiter. Wir könnten so eine Serie von zwölf Arzneimitteln durcharbeiten, die am häufigsten in akuten, und dann von zwölf Mitteln, die am häufigsten in chronischen Fällen benutzt werden. Auf diese Weise würde der Behandler eine begrenzte Anzahl von Mitteln sehr gut kennen lernen und wäre sofort in der Lage, eins von ihnen zu erkennen, wenn es angezeigt ist – oder auch zu erkennen, dass keins dieser Mitteln indiziert ist. Nash schreibt in seiner Monographie über Sulphur: „Ein gut gelerntes Mittel ist besser als mehrere halb verstandene.“ In der Praxis müssen wir oft zwischen drei oder vier Mitteln differenzieren, wenn wir das Ähnlichste wählen wollen. Für gewöhnlich sind zwei oder drei davon unter den am häufigsten gebrauchten Mitteln zu finden.

Könnten Sie ein paar Beispiele nennen?
André Saine: Bei den am häufigsten in Akutfallen benutzten Mitteln könnte man mit Belladonna beginnen, gefolgt von Aconitum, Bryonia, Rhus toxicodendron, Arsenicum album, Apis mellifica, Hepar sulphuris, Ferrum phosphoricum, Gelsemium, Nux vomica, Ignatia amara und Chamomilla. Bei den am häufigsten in chronischen Fällen benutzten Mitteln empfahl Lippe seinen Schülern, mit Lycopodium zu beginnen – das ein sehr gutes Mittel für den Anfang ist, weil es ein sehr charakteristisches Arzneimittelbild hat – , und dann könnten wir weitergehen und Pulsatilla mit Lycopodium vergleichen, und dann Sepia studieren und es mit den ersten beiden vergleichen, weil sie in vielen Aspekten verwandt sind. Und dann studieren wir Natrium muriaticum, Phosphorus, Sulphur, Lachesis, Calcium carbonicum, Silicea, Staphisagria, Aurum metallicum, Platinum und so weiter, eins nach dem anderen, und vergleichen dabei immer ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede. Das können wir dann nicht nur mit diesen Mitteln untereinander machen, sondern auch mit anderen Mitteln, die ähnliche Symptome teilen, ständig vergleichend und individualisierend. Das ist die Bedeutung von Diagnose – Wissen durch Abgrenzung, Unterscheidung. Der Aufbau solcher Vorlesungen über die Materia medica wäre ähnlich wie Farringtons Klinische Arzneimittellehre. Je mehr Mittel wir mit dieser Methode studieren, umso weniger Zeit werden wir brauchen, um weitere zu lernen.

Lippe sagte einmal, dass alle, die unsere Materia medica wirklich verstanden haben, nach dieser Methode studiert hatten – nach der diagnostischen Methode von Hering. Im Laufe meiner eigenen Erfahrungen habe ich herausgefunden, dass die beste Art, eine Vorlesung über Materia medica vorzubereiten, folgende ist: Ich lese wenn möglich zuerst die Originalaufzeichnungen der Arzneimittelprüfungen, besonders wenn sie in chronologischer Reihenfolge vorhanden sind. Das ist bei Prüfungen, die in Amerika stattgefunden haben, häufig der Fall. Dadurch bekommen wir exakte Informationen darüber, was sich abgespielt hat und zu welcher Tageszeit, so dass wir die Entwicklung der Symptome verfolgen können. Natürlich haben wir nicht immer diese Gelegenheit.

Die meisten Aufzeichnungen folgen dem Aufbau der Arzneimittellehre Hahnemanns, indem sie eher die anatomische als die chronologische Reihenfolge betonen. Dennoch ist es sehr wichtig, die Originalsymptome der Arzneimittelprüfung zu studieren, um einen Eindruck von dem „primitiven“, ursprünglichen Symptombild zu bekommen. Das ist eine absolute Grundlage für ein ernsthaftes Studium der Materia medica. Eine gut geführte Arzneimittelprüfung mit sensiblen Prüfern wird die charakteristischsten Symptome einer Arznei, ihren „Genius“ hervorbringen, und das ist es, was zählt. Wenn wir ein Mittel lesen, versuchen wir seinen Genius, seine Natur wahrzunehmen, das, was charakteristisch und ihm eigen ist und die Identität dieses Mittels ausmacht.

Hahnemann ging für gewöhnlich so vor, dass er in seiner Einführung zu einem Arzneimittel Hinweise auf dessen Genius gab oder die auffälligsten Symptome durch Fettdruck hervorhob. Nachdem ich die Arzneimittelprüfung gelesen habe, lese ich dann die klinischen Bestätigungen von zuverlässigen – das ist wichtig! – ZUVERLÄSSIGEN – Autoren und entdecke dabei gewöhnlich noch eine Menge mehr über das Mittel.

Können Sie uns ein Beispiel geben?
André Saine: Nicht alle charakteristischen Symptome werden notwendigerweise während einer Arzneimittelprüfung entdeckt. Nehmen wir zum Beispiel das Symptom: Erbrechen, sobald das, was man zu sich genommen hat, im Magen warm wird. Dieses Symptom ist weder in der Reinen Arzneimittellehre noch in den Chronischen Krankheiten zu finden; wo kommt es also her? Es kommt von Lippe, der es als erster bei einem von ihm behandelten Patienten beobachtet hat. Seit dieser ersten Beobachtung ist es oft bestätigt worden; es ist zu einem Leitsymptom geworden. Je mehr wir forschen, umso mehr wird sich jedes Arzneimittelbild entwickeln und durch weitere Prüfungen und Hinzufügen der klinischen Erfahrungen bei seiner Anwendung vollständiger werden. Das ist auch die Idee hinter Herings Leitsymptomen [Leitsymptome unserer Materia medica], es handelt sich um eine Materia medica, die auf den an Kranken gefundenen Bestätigungen der Arzneimittelprüfungen beruht. In den Prüfungen finden wir die reineren und „primitiveren“ (ursprünglicheren) Symptome, die von ihrer Tendenz her mehr funktionell sind, die Symptome vom Beginn der Krankheit, während wir bei den Kranken auch die späteren Stadien der Krankheit finden, die mehr organischen Symptome.

Wenn ich also eine Vorlesung über die Materia medica vorbereite, fange ich mit Hahnemann oder den Original-Prüfungen an, dann folgt Allens Encyclopedia of Pure Materia Medica, dann Herings Leitsymptome, dann lese ich weitere zuverlässige Autoren – Lippe, Guernsey, Nash, Dunham, Earnest Farrington usw., und schließlich die moderneren Autoren wie die Pulfords (Vater und Sohn) und Harvey Farrington (Earnests Sohn). Zum Abschluss sammle ich alle Fälle von zuverlässigen Beobachtern, die ich in den Zeitschriften finden kann, und aus meiner eigenen Praxis, um die Vorlesung zu ergänzen und zu illustrieren. Jetzt wird das Ganze schön griffig. Dies ist der allerbeste Weg, den ich gefunden habe, um die Materia medica zu studieren.

War das eine umfassende Liste der zuverlässigen Werke über Materia medica, die Sie eben angegeben haben, oder gibt es noch Werke hinzuzufügen?
André Saine: Ich würde sagen, dass eine umfassende Liste Hahnemann, Lippe, Guernsey, Nash, Allen, Hering und Farrington einschließen würde. Obwohl wir mit dem Vater, Earnest, sehr vorsichtig sein müssen – bei ihm müssen wir alle physiologischen Aspekte weglassen. Er lag da falsch. Im zwanzigsten Jahrhundert gibt es nicht allzu viele Autoren, die verlässlich sind. William Boericke war nicht unbedingt der beste Homöopath, aber er war sehr belesen, und was er geschrieben hat, ist zuverlässig, aber sehr begrenzt. Clarke war auch sehr belesen. Sein Dictionary of Practical Materia Medica ist gut, was den ersten Abschnitt, die sogenannten „Charakteristika“ – betrifft; sie können als Einführung zu einem Mittel benutzt werden. Die Fallschilderungen, auf die hier Bezug genommen wird, erschaffen häufig lebhafte Bilder und erleichtern die Charakterisierung eines Arzneimittels. Der Rest seiner Materia medica ist nicht so wertvoll. Die Pulfords – Vater und Sohn – praktizierten etwa achtzig Jahre lang in Ohio; sie waren sehr gute Homöopathen, und ihre Materia medica ist sehr zuverlässig. Harvey Farrington war einer der letzten sehr verlässlichen Lehrer der Materia medica, und seine Vorlesungen sind sehr wertvoll. Pierre Schmidt war ebenfalls sehr zuverlässig. Er benutzte weniger seine eigene klinische Erfahrung, um zur Materia medica beizutragen, sondern verwertete das, was er gelesen hatte. Er hatte eine sehr gute Bibliothek und die Fähigkeit, daraus einen Extrakt aus zuverlässigem Material zusammenzustellen, während die Pulfords und Harvey Farrington mehr aus ihrer eigenen Erfahrung heraus geschrieben haben. Herbert Roberts ist ebenfalls interessant zu lesen, er hatte viel Erfahrung und war ein guter Beobachter. Boger würde ich in dieselbe Kategorie einordnen.

Was ist mit Kent?
André Saine: Eine Menge von dem, was er geschrieben hat, ist absolut nicht zuverlässig, aber selbst Experten wissen das oft nicht. Zum Beispiel ist all seinen zusammengesetzten Mitteln nach meiner Einschätzung überhaupt nicht zu trauen.

Könnten Sie bitte erklären, was zusammengesetzte Mittel sind?
André Saine: Zusammengesetzte Arzneimittel sind Mittel wie Alumina silicata, Aurum arsenicosum, Aurum jodatum, Aurum sulphuricum usw. Man nimmt zwei bekannte Mittel, sieht sich ihre jeweiligen (einzelnen) Arzneimittelprüfungen an, und dann sagt man: „Was würde passieren, wenn man beide kombiniert?“ Bei den zusammengesetzten Mitteln werden wir feststellen, dass Kent seine Vorlesungen im allgemeinen mit irgendetwas beginnt wie: „Die Symptome dieses Mittels treten am Morgen, Vormittag, Nachmittag, Abend, während der Nacht und nach Mitternacht auf“; dann nehmen wir das nächste Mittel und finden: „Verschlechterung am Morgen, Vormittag, Nachmittag und in der Nacht“ und so weiter! Diese angeblichen Prüfungssymptome sind absolut nicht glaubwürdig. Wahrscheinlich war Kent nicht allzu beeindruckt von Paragraph 144 des Organon, wo Hahnemann sagt: „Von einer solchen Arzneimittellehre sei alles Vermuthete, bloß Behauptete, oder gar Erdichtete gänzlich ausgeschlossen; es sei alles reine Sprache der sorgfältig und redlich befragten Natur.“ Kent hatte seine zusammengesetzten Arzneimittel in einer obskuren Zeitschrift veröffentlicht, die sich The Critique nannte und deren Mitherausgeber er war. In seinem Leitartikel im Dezember 1907 versprach er für das kommende Jahr zwölf neue Mittel, eins für jede Ausgabe der Zeitschrift. Er machte das bis Juni 1908, als er von H.C. Allen und W.P. Waring schwer kritisiert wurde. Beide waren Mitglieder der International Hahnemannian Association und wie Kent in der homöopathischen Ausbildung in Chicago engagiert. Nach dieser Kritik, gegen die Kent sich nicht rechtfertigte, publizierte er nie wieder ein zusammengesetztes Mittel, nicht einmal die, die er schon versprochen hatte. Er schrieb weiter Beiträge für The Critique, aber keine Materia medica mehr. Als er im Jahre 1911 die zweite Auflage seiner Lectures on Homeopathic Materia Medica [Vorlesungen zur homöopathischen Materia medica] veröffentlichte, nahm er keins von den zusammengesetzten Mitteln darin auf, die zwischen 1904 und 1908 veröffentlicht worden waren (die erste Auflage seiner Lectures war 1905 erschienen). Hahnemann selbst hat sich zu diesem Thema sehr deutlich geäußert, und zwar im ersten Absatz des Artikels „Geist der homöopathischen Heil-Lehre“, der in allen drei Auflagen seiner Reinen Arzneimittellehre veröffentlicht wurde und den er selbst für einen seiner wichtigsten Artikel hielt. Darin sagt er, es sei sinnlos, Krankheit mit imaginären Eigenschaften von Arzneimitteln bekämpfen zu wollen.

Teil 2

Wie man ein Homöopath wird
Heute wird man eher in die Irre geführt als „geführt“, weil es heute keinen großen Meister der Materia medica gibt. Selbsternannte „Meister“ sind recht häufig; sie haben oft ein großes Gefolge ergebener Anhänger, aber meist ist es so, daß die Blinden von Blinden geführt werden.

Welche sind die besten Werke der Materia medica für einen Anfänger?
André Saine: Das ist eine komplexe Frage, weil das Feld der Materia medica sehr umfangreich ist. Bei Ihrer Frage muss man zwei Punkte berücksichtigen. Der erste Punkt betrifft die Qualität und der zweite die Zugänglichkeit der Werke. Für Anfänger ist das wichtigste Kriterium für die Qualität einer Materia medica die Zuverlässigkeit des Autors. Die besten Materiae medicae sind allerdings für den Anfänger nicht unbedingt leicht zugänglich. Wenn ich einem Anfänger empfehlen würde, mit Hahnemann zu beginnen, ohne ihm weitere Anweisungen zu geben, könnte es sein, dass ich ihm nicht den besten Rat gebe. Natürlich ist Hahnemann, was seine Zuverlässigkeit betrifft, bei weitem der Beste, aber das Risiko ist groß,

dass der Anfänger durch das schiere Volumen von Hahnemanns Werken über die Materia medica geradezu erschlagen wird. Nehmen wir zum Beispiel Sulphur; in Hahnemanns Chronischen Krankheiten hat es über 1.900 Symptome. Ohne weitere Anleitungen darüber, wie man diese Bücher benutzt, kann sich der Anfänger hoffungslos verloren fühlen. Es ist nutzlos, einem Schüler einfach nur ein Buch zu empfehlen – er muss gelehrt werden, es zu benutzen. Er muss lernen, wie man Hahnemanns Chronische Krankheiten, Herings Leitsymptome oder Allens Encyclopedia of Pure Materia Medica studiert und anwendet. Er sollte wissen, wie diese Werke entwickelt wurden und wie ihre Anwendung beabsichtigt war. Um auf Ihre Frage zurück zu kommen: Jemandem, der noch nie die Materia medica studiert hat, noch nichts darüber weiß und irgendwo anfangen möchte, wurde ich als erstes die Leitsymptome von Nash als eine markante und vergnügliche Einführung in die Materia medica empfehlen. In die gleiche Kategorie wäre Margaret Tylers Buch Homöopathische Arzneimittelbilder einzuordnen. Es ist einfach, zuverlässig, voll von interessanten Fallschilderungen und enthält viele Zitate von verlässlichen Autoren – Hahnemann, Lippe, Hering, Nash, Kent usw. –; es bietet einen vereinfachten Zugang zu unserer umfangreichen Materia medica. In derselben Reihe würde ich auch noch zwei andere Bucher empfehlen, die in modernerer Sprache geschrieben sind, nämlich Gibsons Studies of Homoeopathic Remedies und Harvey Farringtons Homeopathy and Homeopathic Prescribing. Das sind die vier Bücher, die ich einem Anfänger als leicht zugänglich und zuverlässig empfehlen würde. Später dann, um weitere Fortschritte zu machen, muss dem ernsthaften Schüler der Homöopathie beigebracht werden, wie die größeren Werke zu benutzen sind.

Viele Homöopathen haben versucht, die Symptome von bestimmten Arzneimitteln zu ordnen und zusammenzufassen, um diese Mittel leichter verständlich zu machen. Was ist Ihre Meinung über solche „Arzneimittelbilder“?
André Saine: Nun, darin liegt eine gewisse Gefahr, und es ist notwendig, sehr vorsichtig zu sein. Wenn man ein Mittelbild hat, besteht immer die Gefahr, einen Aspekt des Mittels zu nehmen, ihn zu verallgemeinern und zu sagen: „Das ist das Mittel.“ Oder man hat vielleicht ein völlig falsches Bild und wird damit der Realität nicht gerecht. Wann immer jemand zu Ihnen sagt: „Dies ist die Natur des Arzneimittels, dies ist sein Mittelbild.“ – genießen Sie es mit Vorsicht. Es könnte völlig unzuverlässig sein und den Schüler für Jahre in die Irre führen. Im Verallgemeinern liegt eine große Gefahr. Die Kernfrage dabei ist, ob solche Verallgemeinerungen auf einem genauen Studium der Arzneimittelprüfungen basieren, ergänzt durch umfangreiche klinische Erfahrung. Ich habe wenig dagegen einzuwenden, wenn

Hahnemann sagt, man solle Nux vomica nicht verschreiben, wenn der Patient sanft und phlegmatisch ist, oder Aconitum, wenn der Patient ruhig und sein Allgemeinbefinden nicht gestört ist – so lange der Schüler versteht, dass es Ausnahmen zu diesen Verallgemeinerungen gibt. Diese Art von Verallgemeinerungen, die die Natur des Mittels verdeutlichen oder die Natur des Patienten, der dieses Mittel braucht, sind gewöhnlich sehr hilfreich für den Anfänger. Unglücklicherweise hat nicht jeder, der Materia medica unterrichtet, die Arzneimittelprüfungen genau studiert, ist ein verlässlicher Beobachter und hat umfangreiche klinische Erfahrungen.

Die Gefahr falscher Interpretationen oder der Erschaffung falscher Bilder ist enorm hoch. Diese Verallgemeinerungen sind kein großes Problem, solange der Schüler versteht, dass ein genaues Studium der Arzneimittelprüfungen immer der beste Weg ist, und dass es diese Prüfsymptome sind, die bei einer Entscheidung über den Grad der Ähnlichkeit eines Mittels das letzte Wort haben müssen, mehr als irgend jemandes Meinung, unabhängig von dessen Rang und Namen.

Ich habe z.B. auch nichts dagegen, wenn P.P. Wells sagt, dass Belladonna durch Heftigkeit in der Funktion von Geist und Körper charakterisiert wird. Hier haben wir einen sehr zuverlässigen Autor mit umfangreicher klinischer Erfahrung, der die Arzneimittelprüfungen genau studiert hat. Diese Art von Verallgemeinerung ist sehr attraktiv für Studierende der Materia medica, und man kann leicht nachvollziehen, wie irreführend sie werden kann, wenn der Autor nicht verlässlich ist, was heute eher die Regel als die Ausnahme ist. Heutzutage wird man eher in die Irre geführt als geführt, da alle möglichen Personen sich leicht als Meister der Materia medica ausgeben können. Selbsternannte „Meister“ sind recht häufig: sie haben oft ein großes Gefolge ergebener Anhänger, aber meist ist es so, dass die Blinden von Blinden geführt werden. Ich kenne einige Ärzte, die solchen Lehrern gefolgt sind wie einem Guru – einige von ihnen haben bis zu zehn Jahre damit verbracht, auf falsche Mittelbilder hin zu verschreiben, bevor sie aufgewacht sind, und selbst jetzt finden sie es noch schwierig, sich von diesen Ideen zu befreien. Manchmal schicken sie mir Fälle – natürlich Fälle, bei denen sie keinen Erfolg hatten –, und dann höre ich hinterher häufig von ihnen: „Warum habe ich dieses

Mittel nicht gefunden? Wie konnte ich es bloß übersehen?“ Die Antwort ist einfach. Sie haben die Grundregel Hahnemanns nicht befolgt, zunächst einmal eine vollständige Fallaufnahme zu machen. Wenn wir eine ordentliche Fallaufnahme haben, kann sogar ein Anfänger das Mittel finden, weil wir dann eine klare und reine Beschreibung des Krankheitsphänomens bekommen. Anderenfalls, bei einer unvollständigen Fallaufnahme oder einer Anamnese voller irreführender Interpretationen, wäre sogar ein Experte nicht in der Lage, das richtige Mittel zu finden. Der zweite Schritt ist, den Fall zu analysieren, um unter der Gesamtmenge der Symptome die charakteristischsten, eigentümlichsten und auffälligsten zu finden. Die Gesamtheit dieser charakteristischen Symptome bildet das, was Guernsey den Genius der Krankheit genannt hat. Auf ähnliche Weise versuchen wir den Genius eines Arzneimittels zu identifizieren, wenn wir die Materia medica studieren: das, was seine Identität oder Individualität ausmacht, was es von allen anderen Mitteln unterscheidet. Wenn wir einen Fall studieren, vergleichen wir den Genius der Krankheit mit dem Genius des Arzneimittels. Das ist die Grundlage unserer Methode. Wenn wir eine Anamnese machen und uns von unseren Vorurteilen dazu hinreißen lassen, leichtfertig zu interpretieren, was der Patient sagt, dann achten wir nicht auf die reine Sprache der Natur wir haben sie nicht „sorgfältig und redlich befragt“, wie Hahnemann es ausdrückt. Und dann, wenn wir zur Analyse des Falls kommen, überlagern wir alles mit unseren Interpretationen der Arzneimittel; wir folgen nicht mehr Hahnemanns Vorgabe, sondern praktizieren etwas, das nicht mehr Wissenschaft der Homöopathie genannt werden kann, sondern näher an der Esoterik liegt. Je mehr sich in uns ein bestimmtes Bild von einem Arzneimittel verfestigt hat, umso weniger werden wir in der Lage sein, es in all seinen zahlreichen klinischen Erscheinungsformen wiederzuerkennen. Je mehr engstirnige Schlussfolgerungen wir über ein Mittelbild ziehen, umso wahrscheinlicher haben wir die Realität derartig verzerrt, dass wir nicht mehr fähig sind zu erkennen, wann dieses Mittel indiziert ist, auch wenn dies für einen unvoreingenommenen Verschreiber völlig klar ist.

Von all den vielen Ergänzungen zum Repertorium stammen, wie ich festgestellt habe, neunzig Prozent derjenigen, die sich täglich in meiner Praxis bestätigen, von Hahnemann. Zehn Prozent kommen von all den anderen Autoren, und der Großteil davon aus Allens Encyclopedia und Herings Leitsymptomen. Das spricht nicht gerade für all diese modernen Autoren, außer für ihre komplette Unzuverlässigkeit. Schauen Sie, wenn wir verlässliche Informationen wollen, müssen wir mit Hahnemann anfangen – und dann zu Lippe weitergehen. Lippe nahm Hahnemanns Schriften genau wie er sie vorfand, wandte sie buchstabengetreu an und veröffentlichte dann seine dafür gefundenen Bestätigungen. Er hatte etwa fünfzig Jahre Erfahrung, um zu untermauern, was er sagt. Nachdem wir Lippe gelesen haben, können wir wieder zu Hahnemann zurückkehren und ihn besser verstehen. Lippe war – und ist noch immer – der beste Lehrer, um uns ein besseres Verständnis für Hahnemanns Werk zu vermitteln, besonders was die klinischen Aspekte der Homöopathie betrifft. Lippes Art zu schreiben ist kraftvoll, ansprechend, intelligent, logisch, klar, tiefgehend, kritisch und auf den Punkt gebracht. Hering ist ebenfalls sehr verlässlich. Er vermittelt uns eine umfassende Sichtweise und hat wie Hahnemann einen analytischen Verstand. Dann ist da Dunham. Jeder homöopathische Arzt sollte Carroll Dunhams Homoeopathy – the Science of Therapeutics lesen. Dieses Buch ist ein Juwel und enthält einige der besten und klarsten Abhandlungen in der Geschichte der Homöopathie. Dunham behandelt schwierige Themen wie den Stellenwert der Therapie im Verhältnis zur Hygiene, die primären und sekundären Symptome von Arzneimitteln, den Mittelwechsel, den Gebrauch hoher Potenzen, die Frage der Dosierung, das Verhältnis der Pathologie zur Therapie usw. Er hat über diese Themen geschrieben, weil eine Notwendigkeit bestand, bestimmte Aspekte der Homöopathie klarzustellen, die in Hahnemanns Schriften verwirrend waren. Dunhams Schreibweise ist sehr klar und bestimmt. Nehmen wir zum Beispiel das schwierige Thema primärer und sekundärer Arzneimittelsymptome. Hahnemann hat darüber an vielen Stellen im Organon und in anderen Werken geschrieben. Je mehr man Hahnemann liest, umso unklarer wird das Ganze. Dunham greift dieses Thema auf und macht es völlig klar. Später greift Kent das Thema noch einmal auf und wir werden wieder in Verwirrung gestürzt. Nun denn – darüber hinaus ist alles, was man bei Nash findet, sehr wertvoll, ebenso wie alles von H.N. Guernsey, P.P Wells, Joslin, Yingling, Skinner, H.C. Allen, Harvey Farrington, Pierre Schmidt, Herbert Roberts, Elizabeth Wright-Hubbard und Julia Green. Bei den zeitgenössischen Autoren haben wir Jacques Baur, den Herausgeber einer ausgezeichneten Zeitschrift mit dem Titel Les Cahiers du Groupement Hahnemannien du Dr. Pierre Schmidt. Dr. Baur hat in den letzten dreißig Jahren eine Sammlung von Pierre Schmidts Aufzeichnungen zusammengetragen und arbeitet momentan an ihrer Veröffentlichung, die in Anbetracht seiner exzellenten Schreibweise sicher sehr lesenswert sein wird. Alles in allem kann man eine Menge aus guten Zeitschriften lernen. Ich empfehle meinen Studenten immer, nach guten Zeitschriften – alten und neuen – Ausschau zu halten und sie regelmäßig zu lesen, weil sie ein ausgezeichnetes Mittel für eine weiterführende Fortbildung sind. Es gibt einige alte Zeitschriften, die man regelrecht von Anfang bis Ende verschlingen kann. Das trifft z.B. auf The Homoeopathic Physician, The Organon oder The Hahnemannian Advocate zu. Nehmen wir mal die letzte Zeitschrift, die einen ziemlichen Seltenheitswert hat. Es wurden neun Bände veröffentlicht, die wunderbare Artikel von ausgezeichneten Autoren wie Nash oder Yingling enthalten. Sie sind sehr wertvoll und interessant und gewöhnlich mit einer Fülle interessanter Fälle belegt. Aus Zeitschriften von solcher Qualität kann man viel lernen, da soviel davon nicht in Büchern geschrieben wurde. Das betrifft die Lehren von vielen Meistern der Vergangenheit wie Lippe, Wells oder Yingling. Das sind die Menschen, die wir als unsere Vorbilder betrachten und auf die wir bei unserer Ausbildung vertrauen sollten.

Könnten Sie uns eine Zusammenfassung darüber geben, was Ihrer Meinung nach die wesentlichen Punkte bei der Fallaufnahme sind?
André Saine: Ich behandle das Thema, wie man einen Fall aufnimmt, auch in meinen Vorlesungen; diese Vorlesung ist sehr umfangreich und dauert ungefähr zehn Tage. Ich beginne die Vorlesung mit etwa einem Dutzend Schlüsselpunkten, die wichtig für das Verständnis der Anamnesetechnik sind. Wenn ich versuchen sollte, den wichtigsten Punkt bei der Fallaufnahme herauszugreifen. wäre es der, dass der Arzt sich bemühen sollte, seine Objektivität zu bewahren. Das ist die Grundlage für exakte Beobachtungen. Wir müssen dem Patienten mit all unserer Beobachtungskraft und Wachsamkeit zuhören. Sobald wir parteiisch werden oder direktive Fragen stellen, verliert die Information, die wir bekommen, ihren Wert. Während einer Fallaufnahme verlieren wir in dem Moment unsere Objektivität, in dem wir uns auf ein bestimmtes Mittel fixieren. Es ist wesentlich, dass wir unsere Neutralität bis zum Ende der Anamnese beibehalten. Das heißt nicht, dass wir nicht an bestimmte Mittel denken, während wir den Fall aufnehmen. Wenn wir charakteristische Symptome entdecken, ist es unausweichlich, dass wir bestimmte Mittel in Betracht ziehen. Die Einstellung dabei sollte aber sein, eher ein bestimmtes Mittel ausschließen als es bestätigen zu wollen. Natürlich ist die Versuchung groß, uns zu schnell auf irgendwelche Schlussfolgerungen einzulassen. Wir müssen ständig auf der Hut sein, unsere Objektivität zu wahren. Das Stellen direktiver Fragen ist eine gute Art, uns selbst an der Nase herumzuführen. Wenn wir medizinisch oder wissenschaftlich erfolgreich sein wollen, gehört das Fallenlassen unserer Objektivität nicht zu unseren Wahlmöglichkeiten. Wir müssen so beobachten, als wären wir selbst gar nicht vorhanden, und uns als Beobachter der Natur so weit wie möglich von unseren Vorurteilen befreien.

Der zweite wichtige Punkt ist, eine Methode zu entwickeln, die die Patienten dazu bringt, sich zu öffnen und sozusagen „ihre Waren bei uns abzuliefern“. Patienten öffnen sich den Ärzten, denen sie am meisten trauen. Sie trauen demjenigen am meisten, der aufrichtig und kompetent ist. Es gibt keinen besseren Weg als eine homöopathische Fallaufnahme, um dieses Vertrauen bei Patienten zu entwickeln. Nehmen wir an, wir haben einen Fall mit multipler Sklerose und verbringen dreißig Minuten damit, die Hauptbeschwerde des Patienten zu analysieren, und wenn wir die Modalitäten abfragen, die die Symptome beeinflussen, erwähnt der Patient, dass alle Symptome sich kurz vor einem Sturm verschlimmern. Es gibt einen magischen Moment, der sich zwischen Arzt und Patient entwickelt. Zunächst einmal haben wir bis jetzt mehr Zeit damit zugebracht, den Patienten über sein Problem zu befragen, als die meisten Neurologen. Zweitens bemerkt der Patient unsere interessierte Reaktion, wenn er die Tatsache erwähnt, dass die Symptome sich vor einem Sturm verschlimmern. Er sagt sich jetzt nicht nur: „Dieser Arzt hört mir wirklich zu“, sondern auch: „Meine Geschichte ist letztendlich doch wichtig.“ (anders als beim Neurologen, für den dieses Symptom eine unbedeutende Sache war). Und dann befragen wir den Patienten über· seine Schlaflage, ob der Körper oder bestimmte Körperteile im Schlaf warm oder kalt werden, über seine Träume, seine Nahrungsmittelverlangen usw. Unausweichlich entsteht hier eine Art „Komplizenschaft“ zwischen Arzt und Patient, denn unsere Patienten können nur unser Interesse für sie spüren. Schließlich kommen wir an den Punkt, unsere Patienten zu bitten, über ihre Persönlichkeit zu sprechen, ihre Empfindlichkeiten, ihre Ängste, ihre intimsten Aspekte. Zu diesem Zeitpunkt werden sie uns alles enthüllen, was wir wissen müssen. Zu diesem Zeitpunkt sind sie wie ein offenes Buch. Das ist die beste Art, die Wahrheit zu entdecken, welche wiederum der einzige Weg zum Erfolg ist. Die Art der Fallaufnahme, die Hahnemann uns lehrte, ist sehr klassisch. Ich habe gehört, dass Studenten der Harvard Universität ermutigt werden, bei homöopathischen Ärzten zu hospitieren, um ihre anamnestischen Fähigkeiten zu entwickeln. Man kann sich kaum eine bessere Art und Weise vorstellen, die Patienten dazu zu bringen, sich ihrem Arzt zu öffnen. Natürlich müssen wir aufrichtig sein, um unsere Patienten zu solchem Vertrauen zu inspirieren. Diese Aufrichtigkeit muss vorhanden sein, wenn wir uns für das Studium der Medizin entscheiden.

Die Grundprinzipien der Fallaufnahme wurden von Hahnemann im Organon festgelegt. Außerdem schreibt er in der Reinen Arzneimittellehre über die Wichtigkeit, ein guter Beobachter zu werden. In diesem wunderbaren Aufsatz über klassische Medizin [Der ärztliche Beobachter] sagt er: „Diese Fähigkeit, genau zu beobachten, ist wohl nie ganz angeerbt; sie muss größtentheils durch Uebung erlangt, durch Läuterung und Berichtigung der Sinne, das ist, durch strenge Kritik unsrer schnell gefaßten Ansichten der Aussendinge vervollkommnet, und die dabei nöthige Kälte, Ruhe und Festigkeit im Urtheile muß unter steter Aufsicht eines Mißtrauens in unsre Fassungskraft gehalten werden.“ [Reine Arzneimittellehre. Bd. 4: 21. Materia Medica Pura. Vol. II: 41.] Schauen Sie, wenn wir einen Fall aufnehmen, dürfen wir nicht zu schnell zu einer Schlussfolgerung kommen. Wir müssen lernen, einen „kühlen Kopf“ zu bewahren. Wieder und wieder müssen wir alles durch gezieltes Befragen des Patienten nachprüfen, bis wir ein klares Bild davon haben, was mit unserem Patienten wirklich los ist. Wir müssen geduldig sein. Ein Arzt, der Homöopathie praktiziert und nicht von Natur aus geduldig ist, muss das lernen, sonst könnte es sogar sein, dass er seinen Beruf wechseln muss. Ohne Geduld können wir keine guten Beobachter sein. Um adäquat beobachten zu können, müssen wir wie jeder echte Wissenschaftler zulassen, dass die Dinge sich uns in ihrem eigenen Rhythmus enthüllen. Es ist wesentlich, sehr geduldig, verständnisvoll und mitfühlend gegenüber dem Patienten zu sein. Wenn wir kein Mitgefühl haben, wird der Patient nicht fähig sein, sich uns zu offnen. Wir könnten dann genauso gut in die Wirtschaft gehen. Ich würde sagen, dass Objektivität, Aufrichtigkeit, Geduld und Mitgefühl einige der wichtigsten Voraussetzungen sind, um eine gute Anamnese zu erhalten.

Ein anderer Aspekt ist die Sorgfalt. Fragen Sie sich einmal, ob Sherlock Holmes es akzeptieren würde, bei der Untersuchung eines Verbrechens die Hälfte der Szenerie am Tatort wegzulassen, oder ob er nicht alles an Beweismaterial berücksichtigen würde – er würde nichts a priori ausschließen. Er setzt sich selbst keine Grenzen für seine Nachforschungen. Mit anderen Worten, der Schlüssel zu einem Verbrechen kann in dem Zeitpunkt liegen, zu dem das Verbrechen begangen wurde, in der Position der Leiche, dem Schlamm an den Schuhen des Opfers, einer Telefonnummer in der Jackentasche, dem Job des Opfers, dem Familienerbe usw. Eine Fallaufnahme ist dem Prozess einer Kriminaluntersuchung sehr ähnlich. In beiden Fällen sucht man nach Indizien. Der eine sucht nach Hinweisen, die zu einem Verdächtigen führen, der andere nach Hinweisen, die zu einem Arzneimittel führen. Der Schlüssel zu einem Fall kann in irgendeiner Besonderheit liegen, wie zum Beispiel einer Verschlimmerungszeit, einer Schlafposition, Heißhunger auf ein bestimmtes Nahrungsmittel, einem auffälligen Gemütszustand, einem objektiven Symptom, einem alten Symptom, das jetzt nicht mehr existiert, in der früheren Krankheitsgeschichte des Patienten, in der Familienanamnese usw. Wir können das nicht a priori erraten, und daher dürfen wir keinen Stein liegen lassen, ohne ihn umgedreht zu haben. Wir dürfen nichts a priori als unwichtig betrachten und müssen überall in unserem Fall nach Hinweisen suchen. Da viele meiner Patienten in einem kritischen Zustand zu mir kommen, würde jede Nachlässigkeit in der Sorgfalt ihre Chancen für eine Genesung verschlechtern. Wir können es uns einfach nicht leisten, nicht sorgfältig zu sein.

Ein anderer Aspekt während der Fallaufnahme ist der Versuch, ein umfassendes Verständnis des Patienten und seines Problems zu entwickeln. Mit anderen Worten: Am Ende der Fallaufnahme sollte dem Arzt alles klar sein. Die Umstände, die Ursachen, der Beginn der Symptome und der Verlauf der Krankheit sollten alle zusammen ein verständliches Ganzes ergeben. Bevor wir keine ausreichende Verständnisebene erreicht haben, ist der Fall nicht abgeschlossen.

Auch sollten wir bei einer Fallaufnahme alles gut dokumentieren, so dass die aufgeschriebene „Geschichte“ nicht nur für uns selbst verständlich ist, sondern für jeden, der sie vielleicht verwenden muss. Alles, was für die Bereiche Diagnose, Prognose, Behandlung, Verbote oder Verschreibungen relevant ist, sollte klar dokumentiert werden. Die Symptome sollten mit den Worten des Patienten geschildert werden, mit so wenig Interpretation wie möglich. Natürlich sollten nur die eigentümlichen Symptome, die für die Verschreibung relevant sind, besonders

gekennzeichnet werden, so dass bei der Verlaufskontrolle die wenigen hervorgehobenen charakteristischen Symptome des Falles schnell zu überblicken sind. Zum Schluss müssen wir nach der körperlichen Untersuchung dann noch unsere persönlichen Eindrücke notieren sowie eine Beschreibung der Morphologie und Physiognomie des Patienten, seiner Gesichtsfarbe und der objektiven Aspekte seines Temperaments und seiner Persönlichkeit anfertigen. Es gibt noch andere Aspekte bei der Fallaufnahme, aber ich denke, die wichtigsten habe ich hier für Sie skizziert.

Was sind die wesentlichen Punkte bei der Fallanalyse?
André Saine: Wenn Sie einen vollständig und gut aufgenommen Fall haben, kann es von da ab relativ einfach sein. In Paragraph 104 [des Organon] sagt Hahnemann: „Ist nun die Gesammtheit der, den Krankheitsfall vorzüglich bestimmenden und auszeichnenden Symptome, oder mit andern Worten, das Bild der Krankheit irgend einer Art einmal genau aufgezeichnet, so ist auch die schwerste Arbeit geschehen.“ Nun, da wir alle Fakten vor uns haben, stellen wir uns die Frage: Was ist das Auffälligste an diesem Fall? Das ist für den noch unerfahrenen Arzt nicht offensichtlich. Um zu wissen, was auffällig ist, müssen wir zuerst einmal wissen, was für die menschliche Natur normal ist, wie Menschen funktionieren und wie häufig oder selten ein bestimmtes Symptom bei einer bestimmten Pathologie vorkommt, oder ein bestimmtes Verhalten in einem bestimmten Zusammenhang. Dies setzt gewisse Kenntnisse über das Verhalten oder die Ethologie in verschiedenen Kulturen voraus. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wie groß ist der Prozentsatz an Personen in den westlichen Kulturen, die einen gewissen Grad an Scheu fühlen, wenn sie zusammen mit anderen eine öffentliche Toilette benutzen müssen? Unsere Toiletten sind so gebaut, dass sie uns einen Sichtschutz bieten, und zusätzlich versuchen wir einen gewissen Abstand zueinander zu halten. Nun, nach Befragung meiner Patienten würde ich sagen, dass diese Zahl bis zu 90 Prozent gehen kann. In anderen Kulturen jedoch, wo die Menschen gewohnt sind, sich mit anderen zusammen zu erleichtern, ist es etwas ganz Alltägliches. In unserer Kultur wäre es eher auffällig, wenn jemand überhaupt keine Hemmungen hätte, oder wenn jemand einen so ungewöhnlichen Grad an Hemmungen hätte, dass er öffentliche Toiletten ganz meidet. Der charakteristische Wert eines Symptoms hängt von dem Grad seiner Intensität im Verhältnis zur Norm der Gruppe ab, zu der die Person gehört. Ein anderes Beispiel: Wenn ich die Schuler einer Klasse frage, wer von ihnen ein Verlangen nach Süßigkeiten hat, liegt die Zahl meist zwischen 60 und 75%. Daher ist also ein Verlangen nach Süßigkeiten an sich nicht so charakteristisch wie ein Verlangen derselben Intensität nach Eis. Was ich zu sagen versuche, ist Folgendes: Je besser wir die menschliche Natur verstehen, umso mehr werden wir in der Lage sein zu unterscheiden, was charakteristisch für ein Individuum ist, und zwar durch unsere Kenntnis dessen, was für die Gruppe normal ist. Um die menschliche Natur zu kennen, benötigt der homöopathische Arzt ein breitgefächertes Wissen in vielen Gebieten einschließlich Ethologie, Soziologie und Psychologie. Um erkennen zu können, was bei einem menschlichen Wesen charakteristisch ist, muss er sich auch in der Pathologie auskennen. Das Studium der Pathologie sollte sich nicht nur auf die Endresultate von Krankheitsprozessen beschränken, wie es in den heutigen Lehrbüchern über Pathologie der Fall ist, sondern sollte sich mit dem gesamten Krankheitsphänomen von Anfang bis Ende befassen, mit besonderer Betonung der Ursachen.

Außerdem müssen wir natürlich die Materia medica sehr gut kennen, denn je mehr wir über sie wissen, umso leichter werden wir das Auffällige vom Gewöhnlichen unterscheiden können. Letztendlich wird die klinische Erfahrung dieses Wissen dann abrunden, denn sie ist der ausschlaggebende Test. Hier erhalten wir unsere Bestätigungen. Hier lernen wir zum Beispiel, dass einerseits ein Symptom, das für ein bestimmtes Arzneimittel charakteristisch ist, wie die aufsteigende Parästhesie von Conium, nicht charakteristisch und nur von geringer Bedeutung für die Mittelwahl in einem Fall von multipler Sklerose ist, weil sie ein übliches Symptom dieser Krankheit ist. Andererseits lernen wir durch klinische Erfahrung, dass es auch häufig anzutreffende Symptome eines Krankheitszustandes gibt, wie die fächerartige Bewegung der Nasenflügel in einem fortgeschrittenen Fall respiratorischer Insuffizienz, z.B. einem schweren Fall von Pneumonie, die in der Tat ein sehr zuverlässiges Leitsymptom sind.

Um auf Ihre Frage zurückzukommen, wie man einen Fall analysiert: Als erstes, nachdem wir einen Fall komplett aufgenommen haben, machen wir eine Liste der charakteristischsten und daher wertvollsten Symptome. Wenn der Patient nur einen Krankheitszustand oder ein Krankheitsbild aufweist, fassen wir alle charakteristischen Symptome zu einer Gesamtheit zusammen. Wir ordnen diese charakteristischen Symptome so, dass die mit dem höchsten Wert oben und die mit dem niedrigsten Wert unten auf unserer Liste stehen. Die oben auf der Liste sind die Leitsymptome, während die unteren differenzierende oder bestätigende Symptome genannt werden. Mit Hilfe des Repertoriums führen die ersteren den Verschreiber zu einer Gruppe von Arzneimitteln, während die letzteren helfen, ein oder mehrere Mittel zu differenzieren oder zu bestätigen, die sehr ähnlich sind. Diese Gesamtheit charakteristischer Symptome stellt dann den Genius des Falls dar. Der letzte Schritt besteht darin, die Materia medica zu lesen, um herauszufinden, welches Mittel dem Genius unseres Falls am besten entspricht.

Wenn der Patient allerdings zwei oder mehr unähnliche Krankheiten aufweist, dann werden die charakteristischen Symptome für jede unähnliche Krankheit getrennt gesammelt. Zum Beispiel werden wir häufig einen Patienten in einem Akutzustand sehen, sagen wir mal mit Pneumonie, der außerdem an einem chronischen Zustand leidet, welcher z.B. chronische Arthritis, Verdauungsprobleme, Schlaflosigkeit, Müdigkeit und Nervosität einschließt. Sehr häufig sind in so einem Fall die Symptome des Akutzustandes verschieden von denen des chronischen Zustands. Dann werden die charakteristischen Symptome in zwei Gesamtheiten aufgeteilt: all die Symptome, die seit dem Einsetzen des Akutzustands erschienen, sind als eine Gesamtheit, und alle Symptome des chronischen Zustands als eine andere aufzufassen. Es gibt auch kompliziertere Fälle, in denen zwei oder mehr unähnliche chronische Krankheiten sich vermischt haben und das bilden, was Hahnemann eine „complicirte“ Krankheit nennt. Jeder unähnliche Krankheitszustand muss dann so gut wie möglich identifiziert und seine Symptome entsprechend von den anderen getrennt werden. Es gibt viele Möglichkeiten für die Koexistenz von zwei oder mehr unähnlichen Krankheiten bei ein und derselben Person. Bei Krankheiten, die verschiedene Stadien entwickeln, seien es akute Krankheiten wie Pneumonie oder chronische wie Nierenversagen, kann jedes Stadium der Erkrankung eine unähnliche Krankheit darstellen und so jeweils ein unterschiedliches Arzneimittel erfordern.

Lassen Sie uns über die Potenzierung von Arzneimitteln und über den Gebrauch der Potenzen sprechen. Welche Potenzen benutzen Sie in Ihrer Praxis?
André Saine: Der Beantwortung dieser Frage sollte nicht zuviel Wichtigkeit beigemessen werden. Ein Arzt kann lernen, jeden Satz von Potenzen zu beherrschen, für den er sich einmal entschieden hat, und jedes beliebige Problem damit anzugehen. Allerdings bin ich in diesem Punkt wie Nash. In seinem Aufsatz Testimony of the Clinic sagt er, er habe seinen Studenten am College immer zu bedenken gegeben, „dass derjenige, der sich entweder auf die hohen oder die niedrigen Potenzen beschränkt, sich selbst daran hindert, das Bestmögliche für seine Patienten zu tun. Wir brauchen uns in der Frage der Potenzen nicht auf die ‚beweisbare Teilbarkeit von Materie’ zu beschränken, sondern können und sollten uns der ganzen Skala bedienen, von der Urtinktur bis zur Höchstpotenz nach Fincke, und uns hinsichtlich ihrer Ergebnisse an den aussagekräftigsten aller Tests, nämlich den physiologischen, halten.“ Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es unabhängig von dem benutzten Satz an Potenzen am wirkungsvollsten ist, die Potenz dem Patienten anzupassen, was ich als optimale Dosierung bezeichne. Es bedeutet, eine Potenz zu wählen, die für den Patienten zu diesem Zeitpunkt optimal ist. Was die Wiederholung des Mittels betrifft, so sollte auch sie optimal sein, nicht zu früh und nicht zu spät. Im Allgemeinen beginne ich einen chronischen Fall mit einer 200er-Potenz nach Dunham oder einer 10M nach Korsakoff. Wenn der Patient zu sensibel für eine 200er ist, empfehle ich ihm, das Mittel in einem oder mehreren Gläsern Wasser zu verdünnen und davon einen Teelöffel oder weniger einzunehmen. Manche Patienten sind sogar noch sensibler, dann gehe ich auf eine 30er-Potenz herunter oder sogar noch tiefer auf eine C6. In einigen Fallen, wo selbst das Verdünnen in Wasser nicht ausreicht, lasse ich den Patienten kurz an dem Mittel riechen. Hahnemann hat das ziemlich häufig gemacht. Das Wesentliche dabei ist, ein Maximum an Nutzen mit einem Minimum an Unannehmlichkeiten für den Patienten zu erzielen. Gewöhnlich benutze ich das gleiche Mittel in derselben Potenz, solange der Patient zunehmend positiv darauf reagiert. Wenn ich zum Beispiel eine 200er-Potenz benutze, und dem Patienten geht es nach der ersten Dosis fünf Wochen lang besser, und sechs oder sieben Wochen lang nach der zweiten Dosis, gebe ich ihm das gleiche Mittel in derselben Potenz auf die gleiche Art weiter, solange es ihm damit besser geht und das Krankheitsbild das gleiche bleibt.

Wenn jedoch ein Patient seine Sensibilität auf eine bestimmte Potenz eines Mittels verliert, wenn er auf eine Folgedosis nicht so gut reagiert und dies nichts mit den äußeren Umstanden zu tun hat und nichts passiert ist, das mit der Mittelwirkung interferiert, dann ist das ein Zeichen, auf eine höhere Potenz zu wechseln, solange das Symptombild gleich bleibt. An diesem Punkt könnten wir auch zu einer tieferen Potenz übergehen, wie Hahnemann es jahrelang getan hat. Das ändert nicht viel. In der Regel ziehe ich es vor, in der Skala nach oben zu gehen. Ich gehe auf diese Art bis zur MM-Potenz nach oben und beginne dann wenn nötig wieder mit mittleren Potenzen. An diesem Punkt benutze ich aber wenn möglich Zwischenpotenzen wie die 500er, 5000er, 20.000er usw. Je länger wir damit warten, eine Potenz wieder einzusetzen, zu der der Patient in der Vergangenheit seine Sensibilität verloren hat, umso mehr wird seine Sensibilität darauf schließlich wiederkehren. Zweimal das gleiche Arzneimittel in derselben Potenz ohne Weiterpotenzierung zu geben widerspricht eigentlich dem, was Hahnemann gelehrt hat. Um die Sensibilität eines Patienten auf ein Mittel einschätzen zu können, finde ich es aber trotzdem effektiver, wenn zur Zelt eines Rückfalls noch einmal dieselbe Potenz auf die gleiche Art gegeben wird. So können wir der Wiederholung des gleichen Experiments in der Medizin am nächsten kommen. Die Ergebnisse eines solchen Experiments versorgen den Arzt mit allen möglichen nützlichen Informationen über die Heilbarkeit des Patienten, über den Ähnlichkeitsgrad des Mittels und über vieles mehr, und all diese Informationen können sehr wichtig sein. Es würde zu lange dauern, das an dieser Stelle zu vertiefen. Um auf die Wiederholung des Mittels zurückzukommen – sie sollte zum optimalen Zeitpunkt erfolgen. Trifft man diesen Punkt nicht optimal, wird der Patient sich langsamer erholen und schwerere Rückfalle haben. Wenn das Mittel zu oft wiederholt wird, wird der Patient seine Sensibilität auf das Mittel verlieren. Wir müssen immer im Auge behalten, dass der Patient seine Gesundheit auf dem schnellstmöglichen Wege zurückgewinnen muss. Der beste Zeitpunkt, um das Mittel zu wiederholen, ist dann, wenn der Patient aufgehört hat, auf die vorherige Dosis zu reagieren, wenn sein Zustand sich nicht mehr weiter bessert oder er anfängt, einen Rückfall zu bekommen. In einem Akutfall ist die Herangehensweise in zwei Punkten etwas anders. Erstens wird die Anfangspotenz gewöhnlich proportional zu der Schwere oder dem Fortschreiten des Akutzustandes erhöht. Hier ist es nicht ungewöhnlich, einen Fall mit einer 10M oder 50M zu beginnen. Zweitens muss die Wiederholung des Mittels so gehandhabt werden, dass ein Rückfall verhindert wird. Es ist klar, dass es äußerst ungünstig wäre, wenn es in Fällen von Pyelonephritis, Meningitis oder Pneumonie zu Rückfallen käme.

Gibt es nach Ihrer Erfahrung irgendwelche Unterschiede in der Wirkung von C-, D-, LM- und Korsakoffpotenzen?
André Saine: Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Es gibt alle möglichen Arten, Arzneimittel herzustellen, indem man die Konzentration verändert, die Anzahl der verwendeten Gläser und die Anzahl oder Stärke der Verschüttelungen (Jenichen, Dunham). Durch diese Variationsmöglichkeiten stehen uns alle erdenklichen Arten von Potenzen zur Verfügung, wie Hahnemanns Centesimal- und LM-Potenzen, Korsakoffs Centesimalpotenzen, Jenichens Potenzen mit wenig Verdünnung, aber wiederholten starken Verschüttelungen, Dunhams Verschüttelungen, die mit starker Krafteinwirkung durchgeführt werden, Finckes Potenzierungen mit kontinuierlichem Fluss [des Wasserstrahls] und Skinners Potenzen mit unterbrochenem Fluss. Hahnemanns Centesimalpotenzen sind in Ordnung, außer dass ihre Skala nach oben hin durch die zweihundertste oder tausendste Potenz begrenzt ist. Korsakoffs und Skinners Potenzen sind ebenfalls in Ordnung und decken auch die höhere Potenzskala ab. Finckes Potenzen sind ausgezeichnet; sie waren Lippes Lieblingspotenzen. Leider sind sie in den Apotheken nicht erhältlich. Es ist interessant zu sehen, dass die Potenzen von Fincke und Skinner keine Verschüttelungen erhalten außer der Kraft des Wasserstrahls. Hahnemanns LM-Potenzen und die Potenzen nach Jenichen sind In Wirklichkeit Tiefpotenzen und können daher zu begrenzend sein. Außerdem gibt es mehr Menschen, die auf die tieferen Potenzen reagieren als auf die höheren, da der Grad der Ähnlichkeit bei ersteren nicht so groß sein muss, um eine Reaktion zu erhalten. Dadurch kann

unsere Suche nach dem Simillimum mit den niedrigeren Potenzen erschwert werden, weil wir zu viele falsche positive Reaktionen bekommen. Unter den 200er-Potenzen finde ich die von Dunham am besten. Bei ihnen scheint die Reaktion des Patienten im Allgemeinen tiefer zu sein und länger anzuhalten. Ich persönlich benutze Dunhams 200er-Potenzen, Hahnemanns Centesimalpotenzen, die alten handgemachten Bornemann-Potenzen, die von Boericke und Tafel, die von Skinner, die alten Fincke-Potenzen und auch Korsakoff-Potenzen. Sie alle zeigen ausgezeichnete Ergebnisse. Meiner Meinung nach liegt das Problem einer schlechten Mittelwirkung in der Praxis gewöhnlich nicht beim Arzneimittel und seiner Herstellungsmethode, sondern beim Verschreiber. Der wahre Schlüssel liegt darin, den höchstmöglichen Ähnlichkeitsgrad zu finden. Je höher der Ähnlichkeitsgrad, umso besser wird die vitale Reaktion auf das Mittel und damit die Genesung des Patienten sein.

Was ist mit den LM-Potenzen?
André Saine: Das ist eine sehr delikate Frage. Ich möchte keinen Ihrer Leser beleidigen, aber die Frage muss gestellt und offen diskutiert werden. Lassen Sie uns für einen Moment auf Hahnemanns persönliche Entwicklung bezüglich der Dosierung zurückblicken. Wir stellen dabei fest, dass er ständig versucht hat, die Dosierung zu verbessern. Zuerst fing er an, die Mittel zu verdünnen, um sie weniger toxisch zu machen. Er begann mit Dilutionen von eins zu fünfhundert; dann verdünnte er eins zu zehntausend usw. Dann ging er dazu über, aufeinanderfolgende Dilutionen mit wechselnden Gläsern herzustellen. Schließlich legte er sich auf die Centesimalpotenzen fest, zuerst ohne Verschüttelung und später mit Verschüttelung. Er experimentierte mit der Anzahl der Schüttelschläge von hundert bis hinunter zu zwei und wieder aufwärts. Dann, in seinen letzten acht Jahren, begann er, immer höhere Potenzen zu benutzen. Um 1840 benutzte er im Allgemeinen die 200er. Zu Beginn des Jahres 1841 fing er an, mit den LM-Potenzen zu experimentieren. Im Ganzen hatte er nur etwa ein Dutzend Mittel, die auf diese Weise verarbeitet worden waren, und das höchste war Sulphur LM20. Er experimentierte etwa zwei Jahre lang mit diesen Potenzen. Gegen Ende des Jahres 1842 nahm die Anzahl seiner Verschreibungen ab, und 1843 praktizierte er kaum noch. Die letzte Patienteneintragung in seinen Krankenjournalen stammt von Anfang Mai 1843; zu dieser Zeit bereitete er gerade die Veröffentlichung der sechsten Ausgabe des Organon vor. Anscheinend hatte er das Gefühl, er hätte genügend Erfahrung mit den LM-Potenzen gesammelt, um sie seinen Kollegen nachdrücklich zu empfehlen. Ich habe fast jeden Fall in Hahnemanns Krankenjournalen gelesen, in dem er LM-Potenzen benutzt hat, und es fällt mir wirklich schwer, mit seinen Erfolgen zufrieden zu sein.

Wenn wir Hahnemann ebenso als Person wie als Wissenschaftler studieren, stellen wir bald fest, dass er dazu tendierte, in seinen Schriften sehr dogmatisch zu sein und sein jeweils letztes Experiment als den optimalen Weg darzustellen. Diese Vorgehensweise widerspricht eigentlich seinem großartigen wissenschaftlichen Geist. Wenn wir seine Werke in chronologischer Reihenfolge lesen, zwingt er dem Leser bei jedem neuen Entwicklungsschritt den Eindruck auf, dass die Methode nun zur Perfektion entwickelt worden sei, und das wäre es nun. Punkt. Dann kommt das nächste Werk, und darin erzählt er uns, dass weitere Experimente ihm nun erlauben, das, was er zuvor mit so großer Gewissheit gesagt habe, zu negieren, und dass die Methode jetzt ein neues Stadium der Perfektion erreicht habe, usw. Wenn wir irgendein Werk von Hahnemann lesen, einschließlich der sechsten Ausgabe des Organon, können wir selbst leicht in seinem Dogmatismus stecken bleiben und nicht über das gerade gelesene letzte Werk hinausgehen. Ich denke, wir können Hahnemann größere Ehre erweisen, wenn wir die Homöopathie und die Medizin im Allgemeinen dadurch weiterentwickeln, dass wir seine induktive Methode – die Basis für das, was er erreicht hat – verstehen und annehmen, als wenn wir seinen Dogmatismus übernehmen und seine Fehler wiederholen. Wären wir nicht Dummköpfe, wenn wir nichts aus seinen Fehlern lernen würden? Meiner Meinung nach ist der wahre Hahnemannianer nicht der, der alles so macht, wie Hahnemann es gesagt hat, sondern der, der die positiven Aspekte seines Ansatzes weiterführt, durch Anwendung der induktiven Methode. Das ist der wahre Hahnemannianer – kein Anhänger, der seine Lehren blind befolgt, sondern jemand, der sie versteht.

Es ist wahrscheinlich, dass sich die Frage der Potenzen anders entwickelt hätte, wenn die sechste Ausgabe des Organon früher veröffentlicht worden wäre. Vielleicht war es ein Glück, dass Bönninghausen gleich nach Hahnemanns Tod anfing, systematisch Lehmanns 200er-Potenzen zu verschreiben. Später begannen die Hahnemannianer, besonders in Amerika, mit hohen und noch höheren Potenzen zu experimentieren. Seitdem sind unsere verlässlichsten Verschreiber über hundertfünfzig Jahre lang beständig bei ihnen geblieben, angefangen bei Hahnemann selbst, gefolgt von Bönninghausen, Lippe, Hering, Dunham, Skinner, Nash usw. Die höheren Potenzen haben sich bewährt und werden überdauern. Ich bin nicht sicher, ob wir ähnliche Ergebnisse erreichen könnten, wenn wir uns auf die niedrigeren Potenzen beschränken würden, und in Wirklichkeit sind die LM-Potenzen sehr niedrige Potenzen. Ich habe mich von ihnen ferngehalten, erstens weil ich sie nicht brauchte, zweitens weil sie zu kompliziert sind (wenn man an Paragraph 2 des Organon denkt: „… nach deutlich einzusehenden Gründen“), und drittens haben einige zuverlässige Autoren wie Pierre Schmidt und P. Sankaran (der Vater) sie ausprobiert, sich aber später wieder von ihnen abgewandt. Das soll nicht heißen, dass sie keinen Platz in der Homöopathie haben, aber ich denke nicht, dass sie das sind, wofür Hahnemann sie hielt – die optimalen homöopathischen Präparate. Wir können die unglaublichen Erfolge nicht verleugnen, die wir mit den höheren Potenzen erzielt haben, mit denen wir leider nicht Hahnemanns Erfahrung haben. Ich möchte auch den LM-Potenzen nicht jegliches Verdienst absprechen, aber diese Dinge müssen aus einem größeren Blickwinkel betrachtet werden. Es ist zu hoffen, dass die Perfektionierung unserer Potenzen weiter fortschreiten wird. Wie Hahnemann sollten wir immer das Ziel haben, unsere Methode einschließlich der Frage der Potenzen zu vervollkommnen, und wie er sollten wir Veränderungen befürworten, positive Veränderungen.

Sie haben über vier verschiedene homöopathische Schulen oder Methoden gesprochen, die Hahnemannsche, die Kentianische, die klassische und die neo-klassizistische. Wie würden Sie diese vier unterscheiden, und wie würden Sie sie einschätzen?
André Saine: Ich habe einmal einen Artikel zu dieser Frage geschrieben. Hahnemann hat eine therapeutische Methode mit klar definierten Prinzipien entwickelt, die er Homöopathie genannt hat. Es sollte selbstverständlich sein, dass jemand, der den Namen Homöopathie benutzt, sich auf diese von Hahnemann klar definierte therapeutische Methode bezieht. Unglücklicherweise haben sich aus unterschiedlichen Gründen viele, die nichts von der Homöopathie verstehen, das Recht genommen, den Begriff Homöopathie für eine völlig andere Art von medizinischer Behandlung zu benutzen. Seit Hahnemanns Zeiten hat es viele gegeben, die sich unberechtigterweise als Homöopathen ausgegeben und unseren Beruf schlecht repräsentiert haben. Das finde ich nicht richtig. Wenn eine Person, die herausgefunden hat, dass es die Homöopathie gibt, mit einer solchen Methode behandelt werden möchte und sich an jemanden wendet, der sich als Homöopath ausgibt, sollte sie dann nicht erwarten können, das Beste zu bekommen, was die Homöopathie zu bieten hat? Sehr zum Pech dieses Patienten wird ein solcher Hochstapler oder Pseudo-Homöopath nicht in der Lage sein, die Versprechen der Homöopathie ihm gegenüber zu erfüllen. Wenn diese Behandler etwas anderes praktizieren wollen, müssen sie es auch anders nennen. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, den Begriff Homöopathie einfach so an sich zu reißen. Die Bezeichnung Homöopathie sollte ausreichen, um eine Behandlung nach der von Hahnemann entwickelten Methode zu garantieren.

Deshalb mag ich auch den Begriff „klassisch“ nicht besonders, nicht nur, weil er erst seit kurzem in Gebrauch ist, sondern wegen des falschen Elitedenkens, das mit ihm verbunden ist. Klassische Homöopathie bedeutet gewöhnlich kentianische oder supra-kentianische Homöopathie. Im neunzehnten Jahrhundert (vor den Zeiten Kents), bildeten die Anhänger Hahnemanns auf Lippes Forderung hin die International Hahnemannian Association (IHA), um die reine Homöopathie von den Behandlungsmethoden der Pseudo-Homöopathen abzugrenzen. In der Regel verstanden die Leiter dieser Gesellschaft sehr viel von der Homöopathie. Dann kam Kent, der eine Zeitlang mit der IHA konform ging, sie später aber verließ und schließlich mit seinen Schülern die Society of Homoeopathicians bildete. Kent führte seine eigenen Vorurteile zusammen mit den Lehren von Swedenborg in die Praxis der Homöopathie ein. Es besteht kein Zweifel daran, dass Kent ein guter Kliniker und ein sehr gefragter Lehrer war, aber er war keiner der großen Meister. Er erreichte nicht das Niveau einer ganzen Reihe seiner Vorgänger. Da er sehr charismatisch war, folgten die Menschen im zwanzigsten Jahrhundert fast blind seinen Lehren, ohne sich tiefer mit den Meistern der Vergangenheit zu beschäftigen. Ganz zu schweigen von Hahnemann. Es bildete sich eine Art Mythos um Kent – einer nach dem anderen folgten die Studenten seinen Lehren, in der Annahme, dass er derjenige sei, der die Homöopathie am besten beherrscht habe, da seine Schriften wie die von Hahnemann sehr autoritär sind, wurde die Person Kents zu einer Art Idol. Diese abgöttische Verehrung hinderte die Schüler daran, seine Schriften kritisch zu studieren, und hielt sie gleichzeitig davon ab, die Werke der Meister zu lesen, die Kent vorangegangen waren. Später im zwanzigsten Jahrhundert wurden einige, die von den Lehren Kents beeinflusst worden waren, sogar noch dogmatischer als er selbst – man könnte sie Supra-Kentianer nennen, noch „kentianischer“ als Kent. Da schon Kent von den Lehren Hahnemanns abgewichen ist, schweben diese Supra-Kentianer in völlig entfernten Galaxien. Der homöopathische Berufsstand trieb im zwanzigsten Jahrhundert immer weiter davon und entfernte sich von seinen Wurzeln. Ich würde mir wünschen, dass die Aussage Herings über das Abweichen von Hahnemanns streng induktiver Methode, die ich zu Beginn des Interviews zitiert habe, mehr Alarmglocken läuten lassen würde. Heute gibt es Personen, die diese supra-kentianische Homöopathie praktizieren und sie im Allgemeinen „klassisch“ nennen – sie ist aber in Wirklichkeit neo-klassizistisch. Nur wenige dieser Menschen haben die Werke Hahnemanns und der alten Meister der Vergangenheit gelesen. Als klassische Homöopathie sollte man die Homöopathie Hahnemanns oder der Hahnemannianer bezeichnen – mit anderen Worten, die reine Homöopathie. Unglücklicherweise studieren nur wenige die Geschichte; meiner Meinung nach ist das ein großer Fehler. Ich hoffe, dass in Zukunft immer mehr von uns dazu beitragen werden, diesen Zustand wieder zu kurieren, nicht nur zu unserem eigenen Wohl, sondern auch zum Wohl der Kranken und unseres Berufs.

Vielen Dank für dieses Interview.
André Saine: Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, meine Ansichten mitteilen zu können.

Literatur

Hahnemann, Samuel
Organon der Heilkunst. Heidelberg: Haug 1999. [1842]
Organon of Medicine. Translated by W. Boericke. [1921] Reprint. New Delhi: Jain 1986.
Reine Arzneimittellehre. Bde. 1-6. Heidelberg: Haug 1995. [1825]
Materia Medica Pura. Vols. I + II. Reprint. New Delhi: Jain 1986.
Die chronischen Krankheiten. Heidelberg: Haug 1991. [1835]

Originalartikel auf der Internetseite von André Saine (englisch):

http://www.homeopathy.ca/articles_det04.shtml
http://www.homeopathy.ca/articles_det05.shtml

Ein Besuch bei Dr. André Saine
Debatte: Pluralismus in der Homöopathie